Werbung
Werbung
Werbung

Imre Kertész erweist sich in seinen Essays und Romanen als kompromissloser Denker, den das Abenteuer der Weltdeutung nicht loslässt.

Den Nobelpreis hat Imre Kertész für seinen "Roman eines Schicksallosen" bekommen. Mittlerweile hat er auch das Drehbuch für die geplante Verfilmung geschrieben; es trägt den Titel "Schritt für Schritt" und wurde von der Stadt Wien im Rahmen der Aktion "Eine Stadt. Ein Buch" in 100.000 Exemplaren verschenkt.

Kertész ist ein kompromissloser Denker, den das Abenteuer der Weltdeutung nicht loslässt. Auschwitz ist dabei für ihn (wie für Jean Améry, dem die folgenden Sätze gelten) der zentrale Ausgangspunkt: "Das Überleben ist nicht nur das Problem der Überlebenden, der lange, dunkle Schatten des Holocaust legt sich über die gesamte Zivilisation, in der er geschah und die mit der Last und den Folgen des Geschehenen weiterleben muß." Der Holocaust "muß in derselben Kultur reflektiert werden, innerhalb derer er begangen wurde".

Atonale Sprache

In den Essays von Kertész spricht das "tragische Weltwissen der Moralität, die den Holocaust überlebt hat", eine sehr eigenständige Sprache: eine "atonale" Sprache, wie er sie selbst nennt, die Konventionen und eingefahrene Deutungsmuster aufbrechen will. Kertész hat sich intensiv mit theoretischen Fragen auseinandergesetzt, aber seine Betrachtungsweise ist "immer subjektiv, und weit höher als jeden theoretischen Ernst schätze ich die Erfahrung".

Von Reflexionen eines Wien-Aufenthaltes im Jahr 1989 bis zur Nobelpreisrede von 2003 sind hier Texte versammelt, die unentbehrlich sind, wenn man über Europa nachdenken, Ungarn verstehen, die Situation eines Künstlers im Kommunismus begreifen oder überhaupt über das 20. Jahrhundert sprechen will. Detailgenauigkeit zeichnet diese individuellen Denkbewegungen ebenso aus wie der Blick aufs Ganze: "Kein Zweifel, wir sind uns an der Schwelle des 21. Jahrhunderts in ethischer Hinsicht selbst überlassen. Wir sind verlassen von einem universalen Gott, verlassen von universalen Mythen und auch verlassen von einer universalen Wahrheit. [...] Uns leiten weder himmlische noch irdische Wegweiser, und aus dieser nackten Tatsache vermögen Mutige Kraft zu schöpfen."

Vorweggenommen

"Liquidation", der neue Roman von Kertész, setzt den "Roman eines Schicksallosen", "Das Fiasko" und "Kaddisch für ein nicht geborenes Kind" fort und deren Lektüre voraus. In raffinierten Brechungen lässt Kertész den ungarischen Verlagslektor Keser´ú auf 1990 zurückblicken. In diesem Jahr spielt nämlich "Liquidation", die dreiaktige Komödie seines Freundes, des Schriftstellers B., der sich das Leben genommen hat. Darin hat B. Situationen und Dialoge erfunden, die sich später real abgespielt haben. Etwa dass sich Keser´ú in einer entscheidenden Sitzung für B.s Werk einsetzen will, doch sie dient nur der Mitteilung, der Verlag werde die Literaturproduktion einstellen. Mit der staatlichen Finanzierung der Literatur, die zugleich ihre Liquidation war, ist es vorbei. Doch die neuen Zeiten, in denen Literatur profitabel sein muss, liquidieren sie umso gründlicher.

Die eigene Biografie

Kertész hat dem toten Schriftsteller B. wesentliche Koordinaten der eigenen Biografie und des eigenen Werkes eingeschrieben. Vor allem der "Kaddisch" ist in vielen Zitaten und Anspielungen präsent. Wie für Kertész war auch für B. die Diktatur, in der er über Auschwitz dachte und schrieb, konstitutiv: "Vorbei unsere Welt, diese - wie ich nunmehr sehe - gemütliche Gefängniswelt, die wir so sehr gehaßt haben. Dieser Haß aber hat mich, wie ich nun weiß, am Leben erhalten. Der Trotz, der Überlebenstrotz", schreibt B. an Sára, seine letzte Geliebte, seinen "Trost in diesem irdischen Lager, das man Leben nennt".

In immer schnellerem Tempo lässt der Roman einzelne Personen ins Licht treten: zuerst Keser´ú, dann Judit, B.s Ex-Frau - auch sie eine Auschwitz-Überlebende -, an die Keser´ú bei seiner fieberhaften Roman-Suche gerät. Judit, die Ärztin, hat B. in rationierten Dosen das Opium verschafft, von dem er abhängig geworden war. In einem Kraftakt an Willensanstrengung hat er es aufgespart, um sich damit töten zu können. Judit versteht seinen Tod und hat seinen letzten Willen vollstreckt und den Roman verbrannt.

Judit selbst aber hat einen anderen Weg gewählt: "Sicherlich hast du recht, sagte ich zu ihm, die Welt ist eine Welt von Mördern, aber ich will die Welt trotzdem nicht als eine Welt von Mördern sehen, ich will die Welt als einen Ort sehen, an dem man leben kann" - mit diesen Worte rechtfertigte sie ihre Florenz-Reise - den Beginn der Trennung von B. Später gesteht sie nach etlichen Anläufen wie ein vertrauliches Geheimnis: "Ich bin glücklich, Keser´ú." Der Weg in den Tod oder in das bewusste Glück - vielleicht im Sinn von Albert Camus, der für die schriftstellerischen Anfänge von Kertész so wichtig war - das sind zwei Möglichkeiten eines Auschwitz-Überlebenden, der auch die Bedingungen überlebt hat, unter denen er sich mit Auschwitz auseinandersetzen musste: den kommunistischen Totalitarismus. Radikale Knappheit und eine beängstigende Leichtigkeit zeichnen diesen grandiosen Roman aus.

Jeans als "Farmerhose"

"Entdeckt" wurde Imre Kertész über den deutschen Sprachraum. Doch leider hat er hier keinen Übersetzer gefunden, der alle seine Werke übertragen hätte. "Liquidation" wartet schon auf der zweiten Textseite mit dem obskuren Wort "Farmerhose" auf, das dem Suhrkamp-Lektorat offensichtlich nicht verdächtig war. Im ungarischen Original steht "farmernadrág" - was nichts anderes als "Jeanshose" bedeutet. Bei der Übersetzung aus ostmitteleuropäischen Sprachen versagen offensichtlich auch bei einem Nobelpreisträger Kontrollen, die bei Übersetzungen aus dem Englischen oder Französischen selbstverständlich sind.

Ende Februar erscheint dieser Roman als szenische Lesung in einer Hörbuchedition des Audio-Verlages.

Literatur:

Die exilierte Sprache

Essays und Reden von Imre Kertész

Mit einem Vorwort von Péter Nádas

Aus dem Ungarischen von Kirstin Schwamm u. a.

Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2003

260 Seiten, geb., e 20,50

Liquidation

Roman von Imre Kertész

Aus dem Ungarischen von Laszlo Kornitzer und Ingrid Krüger

Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2003

242 Seiten, geb., e 18,40

Liquidation

Nach dem gleichnamigen Roman von Imre Kertész

Lesung mit Dieter Mann u.a.

Der Audio Verlag, Berlin 2003

4 CDs mit Booklet, e 24,95

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung