"Aufklären und zum Nachdenken anregen"

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Dagmar Ostermann, eine von drei Überlebenden eines Transports von 522 Frauen nach Auschwitz , hält seit nunmehr elf Jahren alsZeitzeugin Vorträge in verschiedenen Schulen. Sie berichtet dabei über das, was sie erlebt hat - ohne Bitterkeit und Hass -, um vor ähnlichen Entwicklungen zu warnen.

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Dagmar Ostermann, eine von drei Überlebenden eines Transports von 522 Frauen nach Auschwitz , hält seit nunmehr elf Jahren alsZeitzeugin Vorträge in verschiedenen Schulen. Sie berichtet dabei über das, was sie erlebt hat - ohne Bitterkeit und Hass -, um vor ähnlichen Entwicklungen zu warnen.

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die furche: Sie entstammen einer deutsch-jüdischen Ehe. Als Kind hatten sie wegen Ihrer Abstammung noch keinerlei Probleme. Wie kam es zu den willkürlichen Unterscheidungen, die letztlich zur Verfolgung und den anschließenden Gräueln geführt hat?

Dagmar Ostermann: Die Diskriminierung und Verfolgung beruhte auf den rassistischen "Nürnberger Gesetzen". 1935 wurde erklärt, dass das Judentum keine Religionsgemeinschaft, sondern eine "Rasse" sei. Dabei gibt es in jeder ethnischen Gruppe, in jedem Volk, Menschen der jüdischen Religionsgemeinschaft. Hitler hatte die Juden zu einer Rasse erklärt, um sie herausfiltern zu können, weil er ja mit ihnen etwas vorhatte. Wer war nach diesen Gesetzen ein Jude? Bei drei jüdischen Großeltern war man "Volljude". Die Taufe nützte einem nichts, man blieb ein Jude. Wer war ein "Arier"? Vier christliche Großeltern mussten gezählt werden können. Es durfte sich aber nicht irgendeine "minderwertige Rasse" hineingemischt haben. Merkwürdigerweise konnten diese "Arier" jeglicher Religion angehören, konnten Moslems, Juden oder Buddhisten sein, sie blieben Arier. Es ging nicht um die Religion, es ging um die Rasse. Meine Mutter ist zum Judentum übergetreten, um heiraten zu können, denn damals hat es in Österreich andere Ehegesetze gegeben. Man hat rituell geheiratet und nicht standesamtlich. In den Jahren von 1938 bis 1945 ist sie nie involviert worden, denn nach den Nürnberger Gesetzen blieb sie Arierin. Bei "Mischlingen ersten Grades" spielte die Religion sehr wohl eine Rolle. Der "Mischling ersten Grades", der am Stichtag, dem 15. September 1935, einer christlichen Religionsgemeinschaft angehörte oder ohne Bekenntnis war, wurde zum "anerkannten Mischling". Ihn betrafen die "jüdischen Gesetze" nicht. Gehörte derselbe Mischling am Stichtag aber der jüdischen Religionsgemeinschaft an, war ein "Geltungsjude". Dieser unterstand dann all den Gesetzen, die für Juden erlassen worden sind. Nur in einem Punkt waren beide gleich: Ein "Mischling ersten Grades" durfte nur einen "Mischling ersten Grades" heiraten. Hatte er nämlich auch nur ein eheähnliches Verhältnis mit einem Juden oder mit einem Arier, so gingen beide wegen "Rassenschande" ins KZ!

die furche: Sie wissen sicher, dass es Menschen gibt, die behaupten, von Gaskammern nichts gewusst zu haben ...

Ostermann: Als ich nach meiner Haft nach Österreich zurückkam, haben mir viele gesagt, sie hätten von nichts eine Ahnung gehabt. Das stimmt so natürlich nicht, denn man hat ja gesehen, dass die Nachbarn plötzlich nicht mehr da waren. Aber dass sie von den Gaskammern nichts gewusst haben, das habe ich sofort geglaubt, denn ich war ja selbst schon im Lager, ohne davon zu wissen. Als ich diese Ungeheuerlichkeit wahrnahm, konnte ich es fast nicht glauben. Es war für mich unfassbar, dass zivilisierte Menschen andere bei lebendigem Leib in die Gaskammer schicken.

die furche: Wie konnten Sie mit dem Trauma dieser Erlebnisse nach ihrer Befreiung weiterleben?

Ostermann: Ich habe lange Zeit von Auschwitz geträumt, und habe auch immer dieses gewisse Angstgefühl gehabt, anfangs besonders beim Anblick von Uniformen. Bis heute habe ich Angst vor größeren Menschenansammlungen. Der Wunsch, meine geliebte Mutter wiederzusehen, hat mir aber sicher dabei geholfen, das Lager zu überleben. Wir haben uns, als wir einander gefunden hatten, wieder ein gemeinsames Heim geschaffen. Der Alltag hat uns damals so gefordert, dass gar keine Zeit zum Nachdenken geblieben ist. Erst als ich selbst Mutter eines Sohnes wurde, hat sich die Angst wieder gemeldet. Die Angst davor, ihm könnte Ähnliches zustoßen wie mir. Das hat mich wohl auch dazu veranlasst, Vorträge und Diskussionen an Schulen abzuhalten. Die Jugend soll gewarnt sein, damit so etwas nie wieder passiert. Meine Generation steht den Dingen der Vergangenheit eher zurückhaltend gegenüber, viele wollen nichts mehr davon hören. Junge Menschen stehen den Ereignissen dieser Zeit jedoch offen und interessiert gegenüber.

die furche: Was erzählen Sie den jungen Menschen bei Ihren Vorträgen?

Ostermann: Ich erzähle Ihnen beispielsweise, dass ich im Jahr 1938 die Handelsschule "Allina" im Ersten Bezirk in Wien besuchte. Als ich am 12. März 1938 zu meiner Schule kam, stand bereits die SA dort und die Schule war gesperrt, denn die Brüder Allina waren Juden. Meine ersten Erlebnisse vom so genannten Anschluss waren unter anderem die, dass wir im Radio die Abdankung Schuschniggs hörten, und bereits wenige Minuten später das "Heil Hitler" des Ansagers aus dem Radio. Als ich kurz darauf mit meiner Mutter (wir wohnten damals im neunten Bezirk in Wien) auf die Straße ging, hatten alle Wachleute bereits Hakenkreuzbinden am Arm. Die hatten sie, meiner Meinung nach, schon in ihren Taschen vorbereitet. Es wurde auch schon Ausweisleistung verlangt. Als meine Mutter und ich zum Schottentor kamen, sah ich mit Schrecken, dass sich da etwas Fürchterliches zusammenbraute. Ein Mann in Zivil mit einer Hakenkreuzbinde am Ärmel schlug plötzlich auf einen Mann ein, der dunkelhaarig und eher dunkelhäutig war. Zwischen den Schlägen beschimpfte er diesen mit "Saujud".

Das alles geschah knapp eineinhalb Stunden, nach der Abdankung Schuschniggs. Am darauffolgenden Tag gab es am Graben bereits knieende Juden, die mit Zahnbürsten und Reibbürsten die Kruckenkreuze - Symbole des österreichischen Ständestaates bis 1938 - vom Boden wegzuwaschen hatten. Eine johlende Meute stand herum, höhnend und spottend. An der Tür einer Konditorei am Graben hing an diesem Tag bereits das Schild mit der Aufschrift: "Juden und Hunden ist der Eintritt verboten."

die furche: Wie schaffen Sie es, über solche Erlebnisse ohne Hass und Rachegefühle in Schulen zu berichten? Sie fahren ja auch mit Schüler- und Lehrergruppen einmal pro Jahr nach Auschwitz um dort auf Wegen zu gehen, die Sie als Häftling gekannt haben. Ist das zumutbar?

Ostermann: Seelisch ist das schon eine große Belastung. Ich meine auch, dass ich mit meinen seelischen Verletzungen schwerer gelebt habe als mit meiner körperlichen Drangsal. Ich war von zuhause sehr liberal, sehr frei und menschenfreundlich erzogen worden. Die Demütigungen, die ich im Lauf meines Lebens wegen meiner Abstammung erfahren habe, die psychischen Verletzungen, das zum Untermenschen Herabgemindert-Werden, das sind Erlebnisse, die mich innerlich irrsinnig verletzt haben. Gleichzeitig will ich aber verhindern, dass sich diese Dinge wiederholen könnten und dass die Menschen unsensibel und unwissend reagieren. Lassen Sie mich kurz erzählen, was ich nach meiner Rückkehr in Wien erlebt habe: Ich stand vor unserem zerstörten Haus in der Kolingasse. Ich suchte dort verzweifelt meine geliebte Mutter. Tränen standen mir in den Augen. Eine Dame näherte sich und fragte, warum ich weine und was ich da für eine eintätowierte Nummer auf meinem Arm habe. Ich antwortete ihr, dass ich aus Auschwitz komme und das Eintätowierte eine KZ-Nummer sei. Da sagte sie: "Haben Sie vielleicht Bleistift und Papier? Ich möchte mir diese Nummer gerne aufschreiben, und sie dann, wenn das Lotto wieder beginnt, setzen."

die furche: Glauben Sie, dass Menschen fähig sind, aus der Geschichte zu lernen?

Ostermann: Wenn ich daran denke, dass Martin Walser im Oktober 1998, bei der Entgegennahme des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, in seiner Rede meinte, dass er die "Auschwitz-Keule" in Zukunft nicht mehr geschwungen sehen möchte, und dass das anwesende honorable Publikum darauf mit stehenden Ovationen reagierte, habe ich Anlass genug, in meiner Arbeit fortzufahren. Ich möchte nämlich nicht, dass es jemals zu einer so genannten "Schlussstrich-Debatte" kommt. Es bleibt die Aufgabe von Soziologen, Historikern und Zeitzeugen, dem Nationalismus, dem Rassismus und auch dem wiedererstarkten Rechtsradikalismus, entgegenzuwirken. Ich selbst will meine Aufklärungsarbeit weiterhin fortsetzen, denn ich hoffe, dass sie dabei hilft, die Menschen zum Nachdenken anzuregen. Junge Menschen sollen wissen, was passiert ist. Nur so kann man sie davor bewahren, Ähnliches zu erleben. Auschwitz war ein industrieller Vernichtungsbetrieb in höchster Perfektion. Dieses Vernichtungslager war der unbestrittene Höhepunkt eines durchorganisierten Todesmanagements. Darüber darf und soll man nicht schweigen. Ich glaube aber auch, dass mich der Liebe Gott vielleicht auch deshalb am Leben gelassen hat, damit ich Sprachrohr für all jene sein kann, die man sprachlos gemacht hat. Die Menschen die sich heute nicht mehr artikulieren können, dürfen nicht vergessen werden.

Das Gespräch führte Angela Thierry.

Zur Person: Als Geltungsjüdin im Vernichtungslager Auschwitz Dagmar Ostermann ist Halbjüdin: Ihre Mutter, eine Deutsche, stammte aus einer religiösen Familie, ihr Vater, Oberleutnant im Ersten Weltkrieg, war Jude und später Opfer des Nationalsozialismus. Die Brüder von Dagmars Mutter waren (anfangs illegale) Mitglieder der Nationalsozialistischen Partei. Als Mädchen kam Dagmar Ostermann als Rotkreuzschwester nach Österreich. Durch ihre Abstammung galt sie später als "Geltungsjüdin", war deshalb zum Tragen des Sterns verpflichtet und fiel unter die für Juden geltenden Sanktionen. 1942 wurde Dagmar Ostermann inhaftiert und nach Auschwitz deportiert. Dort wurde sie der "Politischen Abteilung" zugewiesen, um auf dem dortigen Standesamt im Büro zu arbeiten. Auch wenn sie dort geschützter als bei Außenarbeiten war, so war ihr doch bewusst, dass sie als "Geheimnisträgerin" früher oder später für die Gaskammer bestimmt war. Dass sie überlebt hat, ist für Ostermann weder ein Glücksfall noch ein Wunder. "Es war reiner Zufall." Am 2. November 1944 wurde sie aus dem Lager befreit.

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