Keine Scham, keine Einsicht

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Zum Film "The End of the Neubacher Project".

Es war mir vergönnt, viele Jahre meines Lebens unter dem größten Sohne zu wirken, den mein Volk in seiner tausendjährigen Geschichte hervorgebracht hat. Selbst wenn ich es könnte, wollte ich diese Zeit nicht auslöschen aus meinem Dasein. Ich bin glücklich, zu wissen, dass ich meine Pflicht getan habe meinem Volke gegenüber, meine Pflicht als Deutscher, als Nationalsozialist, als treuer Gefolgsmann meines Führers. Ich bereue nichts.

(Rudolf Heß in seinem Schlusswort beim Nürnberger Prozess)

Dieser Tage läuft ein österreichischer Dokumentarfilm im Kino an, der geeignet ist, heftige Diskussionen zu provozieren. Denn er löst Emotionen aus und beschäftigt zugleich mit Nachdruck den Verstand. Die Reaktionen bei den zahlreichen Festivals, auf denen der Film seit über einem Jahr gezeigt wurde, waren kontrovers. Sie reichten von Unbehagen über die Zumutung, an einer sehr privaten Geschichte teilhaben zu sollen, über ein kurioses Zartgefühl für die Befragten bis hin zur Anerkennung für den Mut, mit dem sich der Regisseur dieser Herausforderung gestellt hat.

Eigene Familiengeschichte

Denn leicht kann es für Marcus J. Carney nicht gewesen sein. Der 1971 geborene Sohn eines Amerikaners und einer Österreicherin teilt das Schicksal vieler Österreicher oder Deutscher, die nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Welt kamen: dass sie nie so recht erfuhren, was ihre Vorfahren, ihre Eltern und Großeltern in der Zeit des Nationalsozialismus getan, wie sie sich verhalten haben, ob sie das Unrecht nur stillschweigend geduldet, ob sie es durch Denunziation und Verrat unterstützt haben, ob sie gar selbst an Verbrechen beteiligt waren.

Der achtbare Patriot Erich Hackl hat einmal geschrieben, es sei eine "verhohlen nazistische These, wonach Österreich in erster Linie nicht als Ziel der nationalsozialistischen Aggression anzusehen ist, sondern als Landstrich, dessen Bewohner sich die Naziverbrechen zu eigen gemacht haben". Die Menschen, die uns Hackl so eindringlich in Erinnerung ruft, scheinen diese These zu widerlegen. Aber sie waren und sind, leider, eine im doppelten Sinne verschwindende Minderheit. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass das Mitläufertum in Österreich um ein Vielfaches verbreiteter war als der antifaschistische Widerstand, den Hackl in seinen Büchern dokumentiert. Bis heute findet die Einsicht in die Verbrechen österreichischer Nationalsozialisten keinen Konsens. Bis heute sind vielen Österreichern bis weit in die Sozialdemokratie hinein die Nazis und ihre Ideologie näher als deren Opfer. Hackl, der sich seit Jahren darum bemüht, die Opfer und Widerstandskämpfer ins öffentliche Bewusstsein zu heben, muss das wissen. Warum gibt er seinem Wunschdenken so hemmungslos nach? Warum bloß diffamiert er jene als "verhohlen nazistisch", als unbewusste Geschichtsrevisionisten, die nicht bereit sind, vor der hässlichen historischen und in die Gegenwart nachwirkenden Wahrheit die Augen zu verschließen?

Dem gegenüber steckt Marcus J. Carney den Finger in die Wunde, wo sie am stärksten schmerzt: bei der eigenen Familie. Wie sich die Traumata der Opfer nicht mit jener Generation erledigt haben, die vor 1945 verfolgt und gequält wurde, so hat sich die Abrechnung mit den Müttern und Vätern, den Großmüttern und Großvätern nicht mit der 68er-Bewegung erledigt. Marcus J. Carney gehört bereits der nächsten Generation an, aber die Fragen der 68er treiben auch ihn um. Das ist ein schmerzlicher Prozess. Niemand ist zu beneiden, der mit dem Bewusstsein leben muss, dass seine Vorfahren Dinge getan haben, die mit dem eigenen moralischen Wertsystem nicht in Einklang zu bringen sind. So zynisch es klingen mag, so wenig es den Mördern als Entschuldigung dienen darf: es ist angenehmer, Tochter oder Sohn eines Opfers zu sein als Tochter oder Sohn eines Täters.

Die Kinder der Täter

Der Schmerz bei der Enthüllung der Wahrheit wird vergrößert durch den Mythos, dass man die Eltern und deren Eltern lieben müsse. Wie soll man das, wenn sie zugleich Verbrecher waren? Im Märchen müssen die Stiefmütter für die Übeltaten herhalten. Aber wer Ödön von Horváths "Geschichten aus dem Wiener Wald" oder Elias Canettis "Hochzeit" kennt, weiß, dass auch Großmütter nicht gütig und weise sein müssen, dass sie böse und gemein sein können. In der Literatur nimmt man das hin. Im wirklichen Leben muss man damit erst fertig werden.

Das wirkliche Leben hat Marcus J. Carney bei seiner Familienrecherche, für die er den englischen Titel "The End of the Neubacher Project" beibehalten wollte, einen grausamen Streich gespielt. Während der Dreharbeiten erkrankte seine Mutter, die ihm als Gegenstand des Films und als "Kronzeugin" zugleich diente, an Krebs. Am Ende hält der Regisseur beim Gottesdienst für die Verstorbene eine Rede, in der er ihre Krankheit ursächlich in Zusammenhang bringt mit der (Familien-)Geschichte. Das wirkt ziemlich rhetorisch, als sollte damit die aus dem Ruder gelaufene ursprüngliche Konzeption des Films gerettet werden. Aber nicht davon soll hier die Rede sein, sondern von der Großmutter und vom Onkel des Filmemachers, die zwei der am schwersten zu ertragenden Szenen füllen.

Vor Scham geschützt

Der Onkel bekennt ins Mikrofon: "Um auf das Thema der zeitgeschichtlichen Bewältigung zurückzukommen, muss ich dir sagen, dass ich persönlich nie das Gefühl gehabt habe und auch nie haben werde, dass ich mich für irgendetwas zu schämen bräuchte, was ein Neubacher angestellt hat. Es war nichts da, was man bewältigen hätte müssen." Das sagt der Sohn von Eberhard Neubacher, der als Direktor des Lainzer Tiergartens Jagdausflüge für Parteimitglieder und Nazi-Funktionäre, darunter Hermann Göring, veranstaltet hat, der Neffe von Hermann Neubacher, der bereits in der illegalen österreichischen NSDAP Mitglied war, nach dem "Anschluss" Bürgermeister von Wien und später als "Sonderbeauftragter Südost" unter anderem mit der Ausplünderung Rumäniens, Serbiens und Bulgariens beauftragt wurde. Weiter im Onkel-Text: "Das Problem Jude war kein Problem für uns." Auf die Frage nach sechs Millionen ermordeten Juden antwortet der Onkel mit einem Schulterzucken: "Man glaubt es nicht. Ich glaub' die Zahl sechs Millionen bis heute nicht. Sechs Millionen - die hat's nicht gegeben. Das ist ein einfaches Rechenbeispiel. Wo hätten die in Europa sechs Millionen Juden hergebracht, von denen jetzt noch welche leben noch dazu? Das ist doch ein Ding der Unmöglichkeit. Das ist rein logisch nicht fassbar."

Dann die Großmutter, die mittlerweile verstorben ist. Der Enkel fragt sie: "War's heute besser zu leben, heutzutage, oder früher?" Die Großmutter tut, als verstünde sie nicht. "Was meinst du mit früher?" Dann sagt sie, mehr schlitzohrig als naiv: "Ich weiß es nicht, welche Epoche die bessere Zeit war, weil ich das nicht sagen darf, weil sonst sagen's, ich bin ein Nazi." Auf die Frage, wie es ihr gegangen sei, antwortet die Greisin: "Mir ist es gut gegangen in der Zeit." Und als Marcus J. Carney ergänzt: "Wem ist es nicht gut gegangen?", antwortet sie: "Wem ist es nicht gut gegangen? Na ja, wie sie sagen, waren das die Juden, denen es nicht gut gegangen ist, aber war das gut, oder war das schlecht? Das weiß ich nicht." Einer Nachfrage weicht sie aus: "Du hast ja gefragt, wie es mir gegangen ist. Na mir ist es gut gegangen."

Jedes Unrecht gerechtfertigt

Es ist die penetrante Unfähigkeit zur Einsicht, die zunächst erschüttert. Aber genau das ist die Wahrheit, die Carneys Film über die Familiengeschichte hinaus vermittelt: Wer Vorteile daraus bezog (oder auch heute bezieht), dass andere ermordet, verfolgt, diskriminiert werden, findet stets Gründe, sein Handeln positiv zu bewerten. Das konnte man spätestens seit Festingers Theorie der kognitiven Dissonanz wissen, aber von dort bis zur Anwendung im Alltag ist es ein weiter Weg.

Die Mechanismen der Sekundärrationalisierung erweisen sich als stark genug, jedes begangene Unrecht zu rechtfertigen. Die Psyche schützt die Täter vor Selbstvorwürfen, mit denen man, setzte man sich ihnen aus, schwerer leben würde. Deshalb ist es vergebliche Liebesmüh, auf Einsicht zu hoffen und Vorteilsnehmer durch Argumente von ihrer Schuld überzeugen zu wollen. Sie fühlen sich im Recht und genießen weiterhin die Folgen ihrer Schandtaten. Die Neubachers und alle, deren Glück auf dem Unglück anderer basiert.

Die Zahl derer, die ihre Schuld begriffen und nicht bloß aus Opportunismus zum Schein eingestanden haben, wie ein Dieb, der einen Preis erhält, weil er das Diebesgut zurückerstattet, ist verschwindend klein. Man erkennt sie daran, dass sie unaufgefordert und offen über ihre Vergangenheit sprachen und dennoch (oder vielleicht gerade deshalb?) keine Karriere machten.

Der Autor ist Literaturwissenschaftler an der Uni Stuttgart.

THE END OF THE NEUBACHER PROJECT

A/NL 2007. Regie: Marcus J. Carney

Verleih: Filmladen. 74 min.

Diskussionen zum Film:

* Identität und Erzählen

Mit dem Regisseur, Filmemacherin Ruth Beckermann, Robert Schindel u.a.

Ort: Universität Wien, Dr. Karl-Lueger-Ring 1, 1010 Wien, Stiege VII Hörsaal 7

Zeit: Donnerstag 17. 1., 19.30 Uhr

* Morbus Austriacus

Familie, Psyche, Politik

Mit dem Regisseur und Ina Manfredini (Familientherapeutin), Manfred Mittermayer (Literaturwissenschaftler) und Margit Reiter (Zeithistorikerin).

Ort: Votivkino, Währinger Str. 12, 1090

Zeit: Montag 21. 1., 10.00 Uhr

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