6881190-1979_10_05.jpg
Digital In Arbeit

Fünf Thesen zu „Holocaust“

19451960198020002020

Als Anstoß zum Nachdenken bringt die FURCHE auch in dieser Nummer Beiträge zur Judenverfolgung. Die TV-Serie „Holocaust“ hat auch den Impuls für zahlreiche an dieses Thema anknüpfende Diskussionen gegeben: Auf Einladung des Katholischen Bildungswerkes diskutieren am Donnerstag (8. März) um 19.30 Uhr die Professoren Gerald Stourzh und Kurt Schubert sowie Norbert Haslinger im Bildungszentrum Wien IX, Strudlhofgasse 5, über Holocaust. Zum selben Thema hält Vizekanzler a. D. Dr. Fritz Bock ebenfalls am Donnerstag um 19 Uhr auf Schloß Reintal in Graz-St. Peter einen Vortrag.

19451960198020002020

Als Anstoß zum Nachdenken bringt die FURCHE auch in dieser Nummer Beiträge zur Judenverfolgung. Die TV-Serie „Holocaust“ hat auch den Impuls für zahlreiche an dieses Thema anknüpfende Diskussionen gegeben: Auf Einladung des Katholischen Bildungswerkes diskutieren am Donnerstag (8. März) um 19.30 Uhr die Professoren Gerald Stourzh und Kurt Schubert sowie Norbert Haslinger im Bildungszentrum Wien IX, Strudlhofgasse 5, über Holocaust. Zum selben Thema hält Vizekanzler a. D. Dr. Fritz Bock ebenfalls am Donnerstag um 19 Uhr auf Schloß Reintal in Graz-St. Peter einen Vortrag.

Werbung
Werbung
Werbung

These 1: Zum Verständnis und zur Bewältigung der nationalsozialistischen Judenverfolgungen ist es not-wendig, sich ausführlicher mit den Frühphasen der Verfolgung von 1933 bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zu befassen.

In „Holocaust“ wird der Weg von den Anfängen der Diskriminierung und Demütigung der Juden zu den Hauptorten des Grauens - Konzentrationslager, Deportationen, Ghettos, Vernichtungslager - zu rasch zurückgelegt. Eine Szene aus dem ersten Teil möchte ich jedoch herausgreifen, die von exemplarischer Bedeutung ist: das Fußballspiel, bei dem der jüdische Mitschüler Rudi Weiß gefoult und noch dazu vom Spielfeld verwiesen wird.

Hier wird deutlich, wie die Degradierung der Juden zu Personen minderen Rechts niedere Instinkte mobilisiert, die ungehemmt, ja gefördert, gegen „Menschen zweiter Klasse“ losgelassen wurden. Das Böse der nationalsozialistischen Herrschaft trat eben früh zutage, und es zeigte sich lange vor der ersten Deportation.

Schon seit der Ausschaltung der Juden aus dem öffentlichen Dienst ab dem Frühjahr 1933, spätestens seit den beiden Nürnberger Rassegesetzen vom September 1935 und ihren

„Niemand, der in Holocaust das Sterben der Bertha Weiß gesehen hat, wird dieses Grauen abschütteln können“

ersten Durchführungsverordnungen vom November 1935 stellte die Existenz von „Menschen zweiter Klasse“ einen Teil der nationalsozialistischen Rechtsordnung dar. Man lese einmal das „Reichsbürgergesetz“ und das „Blutschutzgesetz“ vom Jahre 1935!

Es scheint mir wichtig und wünschenswert, sich im Unterricht, in der politischen Bildung mit dem Inhalt und den Folgen der Nürnberger Rassegesetze gründlich auseinanderzusetzen, denn gerade das Grauen der „Endlösung“ könnte dazu beitragen, die Anfänge der nationalsozialistischen Rassenpolitik zu verharmlosen.

These 2: Es scheint mir auch deshalb wichtig, sich mit den Anfängen der Judenverfolgung gründlicher zu befassen, denn diese spielte sich in unserer eigenen Lebenswelt ab. Eine zweite Szene aus „Holocaust“: Auf die Tafel des praktischen Arztes Dr. Weiß wird in großen Lettern „Jude“ gepinselt. Eindrucksvoller wäre es gewesen, das darzustellen, was sich -auch in Wien - hundertfach abspielte:

Schon am 25. Juli 1938 wurde mit Wirkung vom 30. September 1938 die

Approbation aller jüdischen Ärzte gelöscht; danach durften jüdische Ärzte lediglich den demütigenden Titel eines „Krankenbehandlers“ tragen. Die Ärzteschilder mußten abmontiert werden, an ihr Stelle traten blaue Schilder, die den mit den Vornamen Israel oder Sara ergänzten Namen des .jüdischen Krankenbehandlers“ trugen. Diese Schilder waren in Wien vielfach zu sehen. Gibt es Photos davon? Wer erinnert sich?

Wer erinnert sich an die Absonderung der jüdischen Mitschüler im Frühjahr 1938? Es gibt noch Tausende unter uns, die als Schulkinder diese Absonderung erlebten. Wie reagierten die Lehrer, die Schüler? Teilnahmsvoll? Teilnahmslos? Gehässig? Verlegen? Beschämt?

Wer erinnert sich an die Parkbänke „nur für Arier“? Wohl viele. Dieses triviale Beispiel der Diskriminierung - gerade weil die Aussperrung aus den Parks noch nicht „ans Leben“ ging, ist geeignet, das in den letzten Tagen viel diskutierte Problem „Kollektivschuld oder keine“ zu illustrieren.

Kann man von der Bevölkerung einer Millionenstadt erwarten, daß sie aus Solidarität mit der jüdischen Bevölkerung die Parks boykottiert hätte? Wohl kaum. Alten Menschen, Bewohnern von Bassenawohnun-gen, den Großeltern und Eltern kleiner Kinder kann man kaum verwehren, in den Park zu gehen und sich auf eine Bank zu setzen.

Von wem hätte man einen Boykott erwarten dürfen? Von wem würde die junge Generation von heute einen solchen Boykott fordern? Von den Alten oder nur den Erwachsenen unter 65? Von Kindern und jungen Leuten? Ab welchem Alter? Ab 10? Ab 14? Wären Frauen, die ein Kind erwarten, moralisch zu einem solchen Boykott verpflichtet?

These 3: Um die Systematik der nationalsozialistischen Rassenpolitik zu begreifen, ist es nötig - mehr, als dies in „Holocaust“ zum Ausdruck kam - sich die wohl durchdachte Abstufung und Vielfalt der Diskriminierungen vor Augen zu halten. Da gab es Volljuden, Dreivierteh'uden und „Geltungsjuden“.

Nach den Stichworten „Jagdzeiten“ und „JM“ (= Jungmädelbund) und vor dem Stichwort „Jugendamt“ gab es auf 17 Seiten Vorschriften über die Rechtsstellung der Juden und jüdischer Mischlinge. Hier ist etwa nachzulesen, welche Juden vom Tragen des Judensterns (eingeführt im September 1941) ausgenommen waren: in einer Mischehe lebende jüdische Ehegatten, „sofern Abkömmlinge aus der Ehe vorhanden sind und diese nicht als Juden gelten (und zwar auch dann, wenn die Ehe nicht mehr besteht oder der einzige Sohn im gegenwärtigen Kriege gefallen ist),

sowie... die jüdische Ehefrau bei kinderloser Mischehe während der Dauer der Ehe“. Wie viele Menschenleben hingen an dem Unterschied zwischen „privilegierter“ und „nicht privilegierter“ Mischehe!

These 4: Eine ausschließliche oder ganz überwiegende Konzentration auf die grauenhaften letzten Phasen der „Endlösung“ beschwört die Gefahr einer neuen Art von „Verdrängung“ herauf. Es liegt mir ferne, von diesem Grauen ablenken zu wollen. Niemand, der in „Holocaust“ das

„Hier wird deutlich, wie die Degradierung der Juden zu Personen minderen Rechts niedere Instinkte mobilisiert“

Sterben der Bertha Weiß gesehen hat - ein Bild, das bleiben wird, wenn viele andere Szenen vergessen sein werden -, wird dieses Grauen abschütteln können.

Niemand, der bei einem Besuch in Auschwitz den Berg abgelegter oder abgenommener Brillen sieht, den Berg übriggebliebener Koffer, wird dieses Grauen abschütteln können. Doch sehe ich in der allenthalben anzutreffenden Tendenz, „Judenverfolgung“ mit „Endlösung“ zu identifizieren, ein Hemmnis in dem Versuch, die Vergangenheit zu bewältigen - und zu verstehen.

Auschwitz, Treblinka, Sobibor, Babi Jar sind ferne Orte; sehr wenige haben sie je gesehen, wenige werden sie sehen. Eine neue Art der Verdrängung - die Verbannung an ferne Orte des Grauens - mag entstehen. Dort hat sich Gräßliches abgespielt... Aber bei uns...

These 5: Die „Endlösung“ war ein Verbrechen sui generis - und ich stimme der von Viktor Frankl vertretenen These „Holocaust ist in uns“ zu. Ein bedeutender deutscher Historiker, der eigentliche Begründer der deutschen Zeitgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg, Hans Rothfels, hat bereits 1953 auch heute gültige Worte gefunden:

„So sehr die Rationalisierung des Unmenschlichen und Untermenschlichen zu den spezifischen Wesenszügen des nationalsozialistischen Regimes gehört und so sehr die Systematisierung der Massenvernichtung wie auch die anmaßliche Entscheidung über das, was ,lebenswert' ist, eine Eigenart eben dieses Regimes sind, so wenig wird man übersehen wollen, welch unbarmherziges Licht hier auf unsere Epoche und ihre latenten Möglichkeiten im ganzen fällt. Sie hat ja auch sonst und anderwärts gezeigt und zeigt immer wieder, wie dünn der zivilisatorische Firnis über den dunklen Kräften der Tiefe geworden ist, und was ihre Freisetzung bedeutet, sowie einmal die Bande gelöst sind.“

Darum scheint auch heute zu gelten: „Wehret den Anfängen.“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung