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Der versuchte Schlußstrich

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Das Kommunique“ über die Freilassung eines Großteils der politischen Häftlinge in Ungarn zum 15. Jahrestag der Befreiung war kurz, ja wortkarg. Rundfunk und Zeitungen sorgten dafür, daß es irgendwo unter „ferner liefen“ die Öffentlichkeit erreichte. Kommentare im Inland fehlen bis jetzt beinahe völlig.

Vor sieben Jahren war es anders. Damals, am 4. Juli 1953, sprach der neue Ministerpräsident des kommunistischen Ungarn, Imre Nagy, im Parlament über sein Programm. Er sprach von der „Wiederherstellung der sozialistischen Gesetzlichkeit“ und kündigte die Auflassung der Internierungslager, die Überprüfung des ganzen Polizei- und Justizwesens an. Die Öffentlichkeit hat damals seit fünf Jahren zum erstenmal Kritik an der Ordnung der Volksdemokratie vernommen — die Kritik kam diesmal nicht aus dem Ausland, sondern durch die Worte eines prominenten Kommunisten, den die Parteiführung soeben an die Spitze der Regierung gestellt hat.

Wie ernst es Imre Nagy mit seiner Kritik war, bewies er schon bald. Viele bereits tot-geglaubte Un-Personen, am Leben gebliebene Opfer der Säuberungen und Schauprozesse der Ära Räkosi kehrten aus den aufgelösten Lagern, aus den Gefängnissen zurück. Sie erschienen auf ihren früheren Arbeitsplätzen — auch in der „Partei“, denn sie konnten nicht anders — und begannen zu sprechen. Es war fa der Regierungschef, der da mit gutem Beispiel voranging.

Die Folgen sind bekannt. Räkosi kehrte noch zurück und ließ Nagy von seinem Posten entfernen. Nach einer Übergangszeit schwacher Nachfolger gewannen die „Revisionisten“ trotzdem Oberhand. Es war im Oktober 1956...

GROSSZÜGIGER ALS IMRE NAGY ... Nichts schien den Nachfolgern, die nach der Katastrophe durch die sowjetischen Truppen in die Macht eingesetzt wurden, wichtiger, als die Fehler beider Richtungen zu vermeiden; die von Räkosi und die von Nagy. Als Hauptgefahr galt der „Rest“ jenes „kleinbürgerlichen Nationalismus“, dessen demagogische Nutznießer seit Kriegsende die Kommunisten selbst waren. Sie waren es, namentlich Räkosi und sein „Volkserziehungsminister“ Jözsef Revai, die das Idol und Leitbild ungarischer Generationen seit 100 Jahren, den legendären Führer des Freiheitskampfes von 1848/49, Ludwig Kossuth, als Vorläufer der Volksdemokratie und wichtigste Schlüsselfigur der ungarischen Geschichte vorstellten. Die Kossuth-Renaissance nach 1945, die als Propagandakampagne von einzigartiger Intensität die Machtübernahme durch die Kommunisten einleitete und begleitete, hatte mit der Zeit eine für die Führungsclique um Räkosi verhängnisvolle Nebenwirkung (die diese jedoch erst zu spät bemerkte): sie förderte das Wiedererwachen des bereits recht angeschlagen gewesenen Ultranationalismus, dessen neuesten Sproß, den Nationalkommunismus, und alles das, was an nationalistisch-chauvinistischer Regung und Reminiszenz im Schatten der scheinbar „linientreuen“ Schlagwortc gedeihen konnte. An alldem, wie ja am Nationalismus überhaupt, war manches richtig, menschlich wertvoll und für Leben und Gedeihen einer menschlichen Gemeinschaft förderlich. Nur eines ging dabei unweigerlich zugrunde: der Kommunismus. Hierin liegt der Schlüssel zum Aufstieg und Sturz des Nationalkommunisten Imre Nagy.

Kädär, im Gegensatz zu Nagy, eifert keinem Kossuth nach. Er hält nichts von „revolutionärem Pathos“, von flammenden Bekenntnissen zur Freiheit und Unabhängigkeit. Er nimmt vielmehr an, daß der ungarländische Nationalismus, als Relikt einer vergangenen Zeit, nur durch die weltfremden Propagandisten Räkosis künstlich am Leben erhalten wurde und daß eine ruhige Entwicklung des Landes, Ausbau der Industrie und Umerziehung, den neuen, den „sozialistischen“ Menschen hervorbringen wird. Der junge Techniker, der „Agronom“, der Facharbeiter, werden nicht viel für einen Kossuth — oder dessen gefährlichere späte Nachfolger — übrig haben.

Wer so denkt — und wahrscheinlich denken so die Mehrheit der Parteispitze, ferner die Moskauer und Warschauer Lehrmeister ... —, konnte es wagen, eine Amnestie zu erlassen, die alle möglichen Schattierungen der politischen Delikte umfaßt. Kädär konnte darin noch großzügiger sein als einst — allerdings noch vor Chruschtschows Machtantritt — Imre Nagy. Er zog einen Schlußstrich unter die Ver-gangenheit.

Nur eines tat Kädär nicht: er kritisierte das System als solches nicht, das in drei Inter-nierungslagern 3000 Menschen jahrelang gefangenhält, tausende Menschen wegen ihrer Überzeugung verurteilen läßt und mit solchen Mitteln eine künstliche Ordnung aufrechterhalten will. Darüber sprach er nicht — im Gegensatz zu Nagy von ehedem —, und es ist zu erwarten, daß diesmal auch die Freigelassenen wenig Gelegenheit haben werden, zu sprechen.

Die Freigelassenen: es sind dies im Sinne der Amnestie zunächst jene Staatsbürger, welche „durch das Gericht zu Korrektionsarbeit verurteilt“ wurden, wobei die Internierungslager bis zum 30. Juni aufgelöst werden.,sollen. und. niemand mehr „in Sicherheitsgewährsam“ genommen“ werden soll. Hierzu kommen alle jene, welche „wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen das Volk“ vor dem 31. Dezember 1952 verurteilt wurden und bereits mehr als die Hälfte ihrer Strafe verbüßt haben. Dies bedeutet die Freilassung aller noch lebenden Akteure der Kriegszeit, Offiziere und Funktionäre Horthys sowie kleiner und großer Pfeil-kreuzler.

Der Kreis der Amnestierten aus späteren Jahren — jener, welche wegen „Verbrechen gegen den Staat“ vor dem 1. Mai 1957 verurteilt wurden — wurde enger gezogen. Hier wird der „Strafvollzug“ nur bei jenen „aufgehoben“, welche bis zu sechs Jahren Kerker verurteilt wurden. Das ist die große Schar der nach der Revolution Eingekerkerten, Schriftsteller (unter ihnen der bekannte Dramatiker Gyula Häy), Priester, Studenten, Journalisten. Sechs Personen wurden schließlich ausdrücklich genannt, bei denen das Strafausmaß ein höheres war, der Strafvollzug nunmehr jedoch „auf Grund individueller Beurteilung gnadenweise“ aufgehoben wurde: vier Anhänger des im Juni 1958 hingerichteten Imre Nagy, so der Romanschriftsteller Tibör Dery und der evangelische Geistliche Ferenc Jänosi, Imre Nagys Schwiegersohn, ferner, mit den vier in einem Atemzug genannt, zwei frühere Mitarbeiter Räkosis, der ehemalige Verteidigungsminister Mihäly Farkas und dessen Sohn Wladimir, ein Halbrusse, der seinerzeit als Polizeioffizier auch den damaligen „Revisionisten“ Kädär auf grausamste Art gefoltert hat. Die beiden kamen bereits vor der Revolution in Haft und wurden unmittelbar nachher zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt. Ihre Entlüftung ist vermutlich das Ergebnis eines „Kompensationsgeschäftes“ zwischen zwei Fraktionen innerhalb der Partei.

Es ist fraglich, ob dieser „Schlußstrich unter die Vergangenheit“ von allen auch so verstanden wird, werden kann. In letzter Zeit mehren sich in Ungarn erneut Anzeichen eines Nationalbewußtseins, die den künstlichen Frieden der Volksdemokratien zu stören beginnen. Eines der vergessenen Streitobjekte im Donauraum wurde kürzlich Gegenstand einer — wohl gedämpften — Polemik: Siebenbürgen. Hier leben seit dem ersten Weltkrieg nahezu zwei Millionen Ungarn unter rumänischer Herrschaft. Die rumänische Volksdemokratie gewährte ihnen Autonomie, beließ ihre eigene Universität — bis vor kurzem. Ungarn standen bei vielen Rumänen sogar im Verdacht, Stützen der Kommunisten in Siebenbürgen zu sein. Heute ist es anders. Parteichef Georghiu-Dej stellte kürzlich in einer öffentlichen Rede das Vorhandensein „chauvinistischer Reste“ bei den Ungarn fest, die bekämpft werden müßten. Man spricht in diesem Zusammenhang von einem Notenwechsel zwischen den beiden Volksdemokratien, von Hausdurch-i suchungen, Verhaftungen.

Das letzte Heft der in Budapest erscheinenden kommunistischen Zeitschrift „Tärsadalmi Szemle“ ergänzt dieses Bild: es weist besorgt auf den Umstand hin, daß „die Mehrheit der ungarischen Studenten noch mit nationalen Vorurteilen behaftet“ ist, daß sie ihren „bürgerlichen Nationalismus“ noch ebensowenig überwunden hat wie auch ihre religiöse Überzeugung ...

Die Nachricht von der Amnestie in Ungarn — insbesondere auch die von der Freilassung der beiden Schriftsteller Dery und Häy, die durch einige Schriftstellerkreise im Westen zum Prüfstein der Koexistenzfähigkeit Ungarns gemacht wurde — kann gewiß auch als Beitrag Ungarns zur sowjetischen Taktik angesichts der am 16. Mai beginnenden Gipfelkonferenz angesehen werden. In Budapest meinte man sicherlich auch noch etwas anderes: die Neutralisierung alter, zum Teil traditioneller Spannungsfelder, Einwirken auf die „nationale Seele“, indem man diese und noch vieles mehr, zumal nach außen hin, einfach als nicht existent betrachten will. Ein gewagtes Experiment. Ob es diesmal glücken wird, steht noch dahin.

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