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RANDBEMERKUNGEN ZUR WOCHE

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DIE NEO-PRIVILEGIERTEN. Es gibt gefährliche Menschen mitten unter uns. Es gibt sogar sehr viele. Von den normalen Staatsbürgern ist die Rede. Wenn sie fleißig arbeiten und brav Steuer zahlen, sind sie ja noch verhältnismäßig harmlos — aber wehe, wenn es einem von ihnen einfallen sollte, etwa das höchste Amt im Staate anzustreben, ohne vorher die Ochsentour durch irgendeinen Parteiapparat gegangen zu sein. Sofort läutet' NR. Dr. Bruno Pittermann die Alarmglocke:

„Durch eine unrichtige Beurteilung des Einflusses von Organisationsapparaten auf die politische Persönlichkeit entstand in manchen Kreisen der Bevölkerung die Auffassung, daß ein politisch ungeschulfer und ungeprüfter Mann zur obersten Führung der Staatsgeschäfte berufen werden könnte. Diese Kreise befürchten von allen anderen Personen, daß sie Gefangene der Parteiapparate seien. Aber diese Ansicht trifft, mit Ausnahme der Kommunistischen Partei, auf keine parlamentarische Gruppe bei uns zu. Deshalb kann mit voller Berechtigung die Berufung eines Nichtpolifikers zum Staatsoberhaupt als ein ungeeignetes, ja für die ruhige Entwicklung unserer Demokratie geradezu lebensgefährliches Experiment bezeichnet werden . . . Die Kunst der Politik kann nicht in Hörsälen erlernt oder von Kathedern allein gelehrt werden.“

Einst zog die Sozialistische Partei aus, um mit allen Privilegien aufzuräumen. Heute dagegen bricht der ansonsten recht aufgeschlossene Klubobmann der Partei eine Lanze für die Vorrechte der Neo-Privilegierten des (berufsmäßigen) Politikerstandes. Als ob man die politische Weisheit nur in der Taferlklasse der Parteisekretariafe lernen könnte.

DIE FUNKEN STIEBEN nach allen Seiten, obschon es bis zum 1. Mai, dem Datum der geplanten Strompreiserhöhung, eine gute Weile hat. Eine gute Weile und mehr als das haben sich die einzelnen Landesgesellschaften zugebilligt, um über das Ausmaß der Erhöhung in den einzelnen Bereichen der Republik schlüssig zu werden: denn der Minisferrafsbeschluß über die Erhöhung an sich ist bereits am 4. September 1956 gefaßt worden. Heute, nach tunt Monaten, ist man noch immer bei „reiflichen Ueberlegungen und eingehender Prüfung" — mit dem Ergebnis, daß sich in allen Bereichen der Wirtschaft eine wachsende Unruhe bemerkbar macht. Gegenüber der theoretischen Erhöhung um 19,5 Prozent, was einer Verteuerung der Kilowattstunde um 4,3 Groschen gleichkäme, hört man, daß dieser Satz nicht blöß unter-, söüdern auch überschritten werdöfr"i'ikönne! Mehr noch! Im Herbst hat man tröstlich verlauten lassen, daß man nach Möglichkeit die Haushaltsfarife von der Erhöhung ausnehmen würde. Jetzt besteht der Verband der Elektrizitätswerke Oesterreichs darauf, daß die geforderte Erhöhung weder aut einzelne Verbrauchergruppen beschränkt bleiben dürfe, noch daß regional, das heißt in den einzelnen Landesgesellschaften, ein Unterschied gemacht werden soll. Mit dürren Worten: Vorarlberg beispielsweise, das nur sehr wenig Verbundsfrom bezieht, müßte in gleichem Ausmaß erhöhen wie andere Länder; Gebiete mit dichtem Abnehmernetz sollen gleichgehalten werden solchen mit dünnerem; Länder, die Großabnehmer an Strom besitzen, wie Oberösterreich mit Ranshoferi, dem größten österreichischen Stromverbrauches werden „gleichgeschaltef". Man soll sich doch keiner Illusion hingeben und glauben, daß die Großabnehmer von Strom ihre Kraftkosten nicht überwälzen werden; daß die so erhöhten Produktionskosten unsere Exportkapazität nicht ebenso beeinträchtigen wie die Konsumkraft im Inland und dem Absatz der Elektrogeräte hinderlich sein können. Es wird Sache der Preisbehörde sein, dem Fluge der Funken sehr eingehende Aufmerksamkeit zu schenken und dafür Sorge zu tragen, daß ein Brandherd nicht Dutzende andere erzeugt; daß der Beschluß der Strompreiserhöhung nicht zu einem Kurzschluß führt.

ADMIRAL HORTHY GESTORBEN. Im portugiesischen Kurort Estoril starb am 9. Februar im Alter von 89 Jahren der letzte Oberbefehlshaber der ehemaligen k. u. k. Kriegsmarine, Vizeadmiral Nikolaus Horthy von Nagybänya. Ein Buch, das er vor einigen Jahren schrieb, trägt den Titel „Ein Leben für Ungarn", denn Horthy war 24 Jahre lang auch Staatsoberhaupt, „Reichsverweser", des Königreiches Ungarn gewesen. Sein Leben war also, zumindest den äußeren Daten nach, wirklich „ein Leben für Ungarn". Horthy gehörte, wie etwa auch der französische Marschaill Pėtain, zweifellos zu jenen Militärs, welche durch die Geschichte „überfordert” wurden. Auch für ihn schien zuerst die militärische Lautbahn der Inhalt und Höhepunkt seines Lebens zu werden, der Dienst in jenem -übernationalen Instrument, das die k. u. k. Kriegsmarine war. Einer verarmten adeligen Familie entstammend, Kalvinist, aus einem kleinen Nest der ungarischen Tiefebene kommend, bewährte sich Horthy auf der Adria glänzend. Man wurde höheren Orts aut ihn aufmerksam, er war zeitweilig auch Flügeladjutant des alten Kaisers. Nach dem Zusammenbruch zog er sich in sein bescheidenes Landhaus in Kenderes zurück. Hier traf ihn das Schicksal, das ihn zuerst nach

Szeged, von dort in die Burg von Buda, dann aber nach Estoril führte. Der Offiziersjunta und der Handvoll von Politikern, die 1919 in Szeged unter Aufsicht der französischen Besatzungsmacht die Niederschlagung der Räteregierung Bela Kuns vorbereiteten, ging es bloß darum, einen der höchsfgesfellten Offiziere der Monarchie als Repräsentationsperson zu gewinnen. So wurde Horthy zuerst Kriegsminister in Szeged, dann, am 1. März 1920 in Budapest „Reichsverweser", „kormänyzö". Er verfügte in der Tat über wenig Rechte. So deckte er mit seinem Namen alles, was die Gömbös und Genossen, die eigentlichen Akteure der damaligen Zeit, unternahmen. Die Feindschaft gegen die Staaten der Kleinen Entente, die Verbitterung über die im Friedensverfrcg von Trianon verlorenen weifen Gebiete der ehemaligen Stephanskrone, trieb den ungarischen Mittelstand, welcher die Stütze der Politik der damaligen ungarischen Regierungen war, in die Arme Mussolinis und Hitlers. Horthy, als er die Gefahren einer solchen Politik nach und nach erkannte, machte nur noch mit halbem Herzen mit. Er war aber fast bis zuletzt nicht imstande, sich gegen seine Offiziere und Politiker durchzusetzen. Der Widerstand wäre ihm nur geglückt, wenn er das Volk hinter sich gehabt hätte. Zu diesem hatte er aber während seiner Regentschaft nie gefunden. Sein Lebensabend im Exil war bitter. Noch bitterer aber ist das Schicksal, das seither das ungarische Volk zu tragen hat.

VORFRÜHLING IN DER SOWJETUNION! Die mit Spannung erwartete Tagung des Obersten Sowjets hat bisher keine „Sensationen" gebracht. Sie hat sich in ihrem ersten Haupfteil mit innenpolitischen Problemen befaßt. Nie noch wurde im Obersten Sowjet so offen, nüchtern,' kritisch — im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten — gesprochen wie diesmal in der Debatte um den Wirtschaftsplan Perwuchins, des Ersten stellvertretenden Ministerpräsidenten und Vorsitzenden der staatlichen Wirtschaftskommission der UdSSR. Wer Perwuchin und wer die Anstrengungen der politischen Bürokratie der Sowjets in der Vergangenheit, propagandistisch aufzubauschen und die wirkliche Wirtschaffund Soziallage der Union zu verschleiern, kennt, kommt vielleicht auf den Gedanken, daß ein Gutfeil dieser Kritiken von Perwuchin selbst bestellt wurde. Dem nüchternen Techniker fällt es nicht leicht, den Dschungel der Konstruktionen und „Pläne” zu überwinden, und eine wirklich sach- und zeitgerechte Wirtschaftspolitik gegen die immer noch riesenhafte Macht der Apparate durchzusefzen. So lassen sich viele dieser Kritikferr dH seinem Wirtschäftiplan als Unterstützung sėines Hauptanliegens aüffassen: immer noch werden ja die Völker der Sowjetunion überforderf, überanstrengt durch die gigantischen Lasten und Aufgaben, die ihnen gestellt werden. Da mag der neue Chef der sowjetischen Wirtschatt und damit auch eines guten Teiles der Innenpolitik es als Erleichterung empfunden haben, wenn da im Obersten Sowjet auf die Wohnungsnot in einzelnen Republiken, auf zu geringe Entlohnung, aut diese und jene prekäre Situation der arbeitenden Massen hingewiesen wurde. Ungarn, Polen, die unzufriedene sowjetische Intelligenz der Hochschulen und Universitäten: sie alle kamen nicht zu Wort bei dieser Tagung des Obersten Sowjets — wohl aber versuchte man indirekt, die Grundlagen der letzten Krisen und Katastrophen anzugehen: die Verelendung der Völker innerhalb des sowjetischen Herrschaffsblocks und deren Unzufriedenheit infolge der geringeren Rechfsicherheit. Die neuen Pläne für das Jahr 1957 sehen als Wesentlichstes vor: eine Verringerung der industriellen Produktion, Aufbesserung der niedrigsten Löhne, erstmalige Rentenzahlung (16 Millionen Rentenempfänger erhalten 1957 zum ersten Male menschenwürdige Versorgungssätze), und die Fortsetzung der Dezentralisierung der Verwaltung und Rechtsprechung. — Hier rührt der Oberste Sowjet an den wundesten und heikelsten Punkt seines Systems. Eben erst hatte der Roman eines jungen sowjetischen Schriftstellers „Nicht vom Brot allein..." Stürme der Kritik und Diskussion, vor allem aber der Anteilnahme in breiten Schichten der Bevölkerung ausgelösf. Sein Thema: Nicht vom Brot allein lebt der Mensch, sondern er braucht vor allem Recht und Gerechtigkeit. Die ungeheure Machtballung in den Händen politischer und wirtschaftlicher Großmanager und der ihnen hörigen Techniker und Wissenschafter würgt, so zeigte dieses Werk, die Initiative, die Freude, die Freiheit, den Schaffensdrang des einzelnen ab. So dringt nun, aut vielen Umwegen und Nebenwegen, der Schrei der Ungarn und Polen nach Freiheit und Gerechligkeit durch die Mauern des Kremls, zu den Ohren der sowjetischen Machthaber vor. Noch ist es nicht Frühling geworden in der Sowjetunion. Der fieberheiße Vorfrühling im vergangenen Spätherbst in Polen und Ungarn beginnt aber nun doch auch in den Kernländern des Ostblocks erste Früchte zu tragen: der Ruf nach Brot und Freiheit, nach Recht und Selbstbestimmung wird nie mehr verhallen. Er hat Echo und Widerhall gefunden, von der roten, blutigen Donau in Budapest bis zu den Getreidefeldern Kasachstans.

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