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Daß die Zeit alle Wunden heilt, ist einer der vielen Irrtü- mer des Volksmundes. Dieser Freitag,’ 16. Juni, wird in Zukunft ein Gedenktag für die Ungarn sein (siehe Seiten 12-13). An diesem Freitag werden Zehntausende Ungarn öffentlich und offiziell der Wunden gedenken, die dem Land und seinen Menschen beim Aufstand 1956 geschlagen wurden: 453 Hingerichtete,

3.0 Tote, 13.000 Verletzte,

200.0 Flüchtlinge.

Dieser Freitag ist ein Tag der Erinnerung. Auf dem Budape- ster Heldenplatz werden die Gebeine von vier Männern auf gebahrt und dann in Familiengräbern beigesetzt. Bis zu diesem Tag wurden sie Verräter genannt. Einer von ihnen, Imre Nagy, war beim Aufstand 1956 Ministerpräsident, 60 Jahre alt und ein verdienter Kommunist, der während des Zweiten Weltkrieges als Emigrant in Moskau lebte.

Nagy war der erste Nachkriegsminister der Bodenreform, dann kurze Zeit Innenminister und von 1953 bis 1955 schon einmal Ministerpräsident. Beim Aufstand forderte er das Mehrparteiensystem für Ungarn, freie Wahlen, Neutralität und den Austritt aus dem Warschauer Pakt.

Sein Nachfolger Jdnos Kd- ddr hatte ihm und den Genossen, die sich mit Nagy in die jugoslawische Botschaft geflüchtet hatten, freies Geleit versprochen. Als sie daraufhin die Botschaft verließen, wurden sie verhaftet, nach Rumänien verschleppt, zwei Jahre später gehenkt und in einem anonymen Grab verscharrt. Sie sollten vergessen werden.

Aber so leicht läßt sich Geschichte nicht verdrängen. Schon 1956 erinnerten sich die Ungarn an ihre Geschichte: Nach dem scheinbaren Sieg der Aufständischen fragten Studenten in einem Rundfunkaufruf: „ Soll Rußland abermals die ungarische Freiheit in den Staub treten wie im Jahre 1849?“

1956 wollten die Ungarn wirkliche und nicht nur scheinbare Demokratie, sie wollten wirkliche und nicht nur scheinbare Unabhängigkeit.

Das fordern sie auch jetzt. Und sie erinnern sich dabei an Imre Nagy.

Nagy hatte sich in sein Reformkabinett auch den bekannten marxistischen Philosophen György Lukdcs geholt, und Lukdcs meinte damals, daß seine Partei bei Wahlen höchstens zehn Prozent der Stimmen gewinnen werde.

Mitte des nächsten Jahres soll es in Ungarn freie Wahlen geben, und es heißt, die kommunistische Partei werde notfalls auch in Opposition gehen…

Spätestens Mitte des nächsten Jahres könnte also bewiesen werden, daß es eine Demokratisierung des Kommunismus gibt. Den Preis für diesen Beweis haben Kommunisten bisher nicht bezahlt. Die Abdankung des Kommunismus.

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