6646338-1958_26_04.jpg
Digital In Arbeit

IMRE NAGY-VOM KOMMUNISTEN ZUM NATIONALEN MÄRTYRER

Werbung
Werbung
Werbung

In einem Wiener Kaffeehaus, Ende September 1956. Ein junger Ungar — seines Zeichens Ethnologe — spricht: „Imre baszi könnte noch alles in Ordnung bringen. In Ungarn kann man keine Politik gegen die Bauern machen — und die Bauern stehen hinter ihm ...“ Das Schiff mit den ungarischen 'Wissenschaftlern, Schriftstellern, die in Wien zu Besuch weilten, fährt donau-abwärts. Es vergehen wenige Wochen.

23. Oktober 1956, gegen Mitternachtt Der Platz vor dem Parlament in Budapest ist schwarz von Menschen. „Wir wollen Imre Nagy!“ ruft die Menge im Takt, stundenlang. Fenster und Tore bleiben aber verschlossen. Schließlich fährt jemand im Taxi davon, um Imre Nagy zu suchen. Man findet ihn. Er willigt nur zögernd ein, zu den Demonstranten zu sprechen. Seine Worte, vom Balkon des Parlaments gesprochen, sind nicht die eines Verschwörers, der Aufruhr sät: „Freunde, ich kann euch nichts versprechen. Wenn ich irgendwie behilflich sein kann, werde ich es bestimmt tun. Geht jetzt in Ruhe nach Hause.“

Für ihn selbst begann die vorletzte Phase eines Lebensweges, dessen düsteres Ende mit allem im Widerspruch steht, was dieser bäuerliche Kommunist, Sohn kalvinistischer Eltern aus Südwestungarn, zeit seines Lebens tat oder dachte. Denn Imre Nagy war kein politischer Träumer und kein Verschwörer. Der 1895 Geborene lernte das bejammernswerte Leben des ungarischen Landproletariats kennen und stieß früh zur sozialdemokratischen Bewegung. Wie viele seiner späteren Genossen, wird er in Rußland Kommunist, als Kriegsgefangener, und er nimmt an den revolutionären Vorgängen in Rußland und später in Ungarn eifrig teil. Er kommt 1929 zum Studium nach Moskau.

Hier wendet er sich der Agrarwissen-schaft zu — er, der in seiner )ugend nur die

Volksschule absolvieren durfte. Er will in Ungarn den feudalen Großgrundbesitz aufteilen. Das Jahr 1945 sieht ihn als Landwirtschaftsminister der ersten Koalitionsregierung in Budapest, der diese längst fällige Bodenreform durchführt. Die Zeit ist für seine

Ideen nicht günstig. Der alte Stalin gibt dem kalten Taktiker und Opportunisten Rakosi alle Vollmachten und Nagy muß weichen. Er wird Professor für Agrarwirtschaft.

Juli 1953: Stalin ist längst tot, das volksdemokratische System Rakosis steht vor dem völligen Bankrott. Nun holen die neuen Herren in Moskau den vergessenen Agrarreformer aus der Versenkung. Im Parlament am Donauufer steht ein großer, behäbiger und jovial aussehender Mann, der neue Ministerpräsident, vor dem Mikrophon und kündigt aufregende Dinge an: die Einstellung der Zwangskollektivisierungen, Aende-rung der Industriepolitik zugunsten der Konsumenten, Aufhebung der lnternierungslager und des Polizeiterrors. Die Rede und die nach ihr folgenden Monate festigen die Volkstümlichkeit eines Mannes, der sich vornimmt, in einem kommunistisch regierten Land Wohlstand und Zufriedenheit zu schaffen. „Nationalkommunist“, gar „Titoist“ war Imre Nagy nur soweit, als er der kolonialen Ausbeutung seines Landes durch die große östliche Macht ein Ende setzen wollte. Der wiedererstarkte Rakosi stürzt ihn im Frühjahr 1955. Aber die Sowjetführer lassen ihn nicht mehr aus den Augen, man weiß, er hat mächtige Freunde unter ihnen und Moskau könnte einmal auch anders ...

Am 4. November 1956 flieht Imre Nagy in das Gebäude der jugoslawischen Botschaft. Niemand ahnte damals, daß er damit eine symbolische Tat vollführte: sein Leben wurde noch mehr, als es immer schon war, ein Spielball der großen Machtkämpfe, die über das kleine Land Ungarn und über Einzelschicksale, über menschliches Wollen ' und Versagen hinwegbrausen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung