"Wer bleibt, um gehängt zu werden?"

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"Man log tags, man log nachts, man log auf allen Wellenlängen" hieß es 1956 über das ungarische Radio. Und auch in den Jahrzehnten bis zum Zusammenbruch des Kommunismus wurde weitergelogen - ein Bildband und zahlreiche Bücher suchen jetzt nach der Wahrheit von 1956.

Weil er das Gefühl hatte, "dass 1956 hier etwas passieren würde", bereiste Erich Lessing Ungarn. Lessing war nicht nur der "Fotograf des Kalten Krieges", sondern ihn interessierte immer "das Verhältnis zwischen dem Individuum und der Politik, der Macht - und wie das Spiel zwischen beiden ausgeht". In Ungarn konnte Lessing zusehen, wie das Spiel ausgegangen ist - und seine Fotografien ermöglichen noch heute bei diesem "Spiel" dabei zu sein, das zur blutigen Revolution ausartete. Am merkwürdigsten fand Lessing aber, dass er von einem Platz, wo gerade eine Schießerei war, ins Hotel gehen konnte. Der Speisesaal war voll und der Kellner im Smoking sagte: "Herr Lessing, wir haben heute ein ganz besonders gutes Gulasch!" Und nach dem Essen ging der Fotograf wieder zur Revolution. WM

BUDAPEST 1956

Die Ungarische Revolution

Photographien von Erich Lessing, mit Texten von Erich Lessing u.a.

Christian Brandstätter Verlag, Wien 2006, 249 Seiten, geb., e 39,90

AUSSTELLUNGEN mit den Photographien von Erich Lessing sind im Leopold Museum, Museumsplatz 1, 1070 Wien (bis 13. Jänner 2007) und im Stadtmuseum Nordico, Dametzstraße 23, 4020 Linz (17. Nov. - 18. Feb. 2007) zu sehen.

Wenn ich gehe - wer bleibt dann, um gehängt zu werden?" fragte Arbeiterführer Sándor Bali und überlebte dann doch. Marta S. Halpert hat in ihrem Buch Gegangen und geblieben. Ungarn 1956 "Oral History" verschriftlicht. Gehen oder bleiben? - minutiös geht Halpert in ihrem Buch den Antworten von Ungarn-Flüchtlingen und Ungarn-Daheimgebliebenen nach und beschreibt, wie den einen und den anderen ihre Entscheidung nicht leichtgefallen ist.

Marta S. Halpert, in Budapest geboren, heute in Österreich ansässig, hat dabei nicht nur die Erinnerungen berühmter Persönlichkeiten dokumentiert, sondern auch die Rückschau weniger bekannter Ungarn, wie der Geschwister Vecsei aus Sopron, die im Wiener "Gmoa Keller" ihrer Tanten eine neue Heimat fanden und sich doch nicht von der alten lösen können. Oder wie der Unfallchirurg Vilmos Vecsei meint: "Ungar zu sein, ist eine unauslöschliche Krankheit!" Sein Zuhause ist Ungarn und Österreich. Sabine Dengscherz

GEGANGEN UND GEBLIEBEN

Ungarn 1956

Von Marta S. Halpert, Molden Verlag Wien 2006, geb., 166 Seiten, e 19,90

Dass sein Buch auf Deutsch erscheint, hat Sándor Fekete (1927 - 2001) nicht mehr erlebt. Auch die ungarische Ausgabe hielt er erst als alter Mann in Händen. Jahrzehntelang war sein parodistisches Lexikon in den Archiven des ungarischen Staatssicherheitsdienstes verstaubt, erst die Wende brachte es ans Tageslicht: Eine sträfliche Satire. Bei der Lektüre wird schnell klar, was die Zensoren 1959 erboste: Da macht sich einer über alles lustig und trifft dabei den Tonfall marxistisch-leninistischer Dialektik - Fekete muss dafür ins Gefängnis.

"Fekete" heißt "schwarz", und schwarz ist auch der Humor des Autors. Vom Stichwort Absolute Verelendung - "ein Phänomen, das bekanntlich nur in den westlichen kapitalistischen Systemen vorkommt" - über Bürokratisches Kauderwelsch, Kollektive Weisheit, Mangelware, Spitzel und Wühlarbeit bis zur Zeugung demontiert Fekete mit subtiler Ironie den Aberwitz eines autoritären Regimes, das nicht zugeben will, autoritär zu sein - nicht 1956 und nicht danach. Sabine Dengscherz

EINE STRÄFLICHE SATIRE

Von Sándor Fekete

Kortina Verlag, Budapest - Wien 2006

208 Seiten, geb., e 17,-

W ahrheit, das ist, wogegen sich die Zunge sträubt", lautet ein Zitat des ungarischen Schriftstellers György Dalos. Sein Buch 1956 - Der Aufstand in Ungarn versucht der Wahrheit über 1956 ein Stück näher zu kommen. Interessant ist dabei vor allem Dalos' Zugang als "Achtundsechziger" zu den Ereignissen 1956 und seine Einsicht: "Bei aller Annäherung der demokratischen Bewegung an die Ideen und Ideale des Volksaufstands schien doch klar, dass der Weg zur Demokratisierung des Landes kaum über eine Wiederholung der Revolutionsereignisse führen würde."

Für Einsteiger ins Thema ist jedoch Paul Lendvais Buch Der Ungarn-Aufstand 1956 mehr empfohlen. Lendvai denkt an seine österreichische Leserschaft und setzt weniger ungarisches Hintergrundwissen voraus - deswegen: zuerst Lendvai, dann Dalos lesen.WM

DER UNGARN-AUFSTAND 1956

Eine Revolution und ihre Folgen

Von Paul Lendvai

C. Bertelsmann Verlag, München 2006 320 Seiten, geb., e 23,60

1956 - DER AUFSTAND DER UNGARN

Von György Dalos

C.H. Beck Verlag, München 2006

247 Seiten, geb., e 20,-

Ungarn 1956 war auch die erste Nagelprobe für das österreichische Bundesheer. Wobei die Chancen einer effektiven Verteidigung bei einem sowjetischen Angriff durchaus realistisch eingeschätzt wurden, schreibt Militärhistoriker Erwin A. Schmidl im Sammelband Die Ungarische Revolution und Österreich: Es ginge vor allem darum, zitiert Schmidl den damaligen Generaltruppeninspektor, dass "die Regierung in Wien Zeit hat, in die Unterhosen zu kommen". Trotz vieler Mängel und Fehler wurde der Bundesheereinsatz sowohl von der österreichischen als auch internationalen Politik gelobt und förderte hierzulande schon früh die von Schmidl kritisierte Haltung, dass "eine symbolische Verteidigung den österreichischen Verhältnissen am besten entspreche".

In 17 Aufsätzen beschreibt der Sammelband Österreichs Reaktion auf die Revolution in Ungarn: von der Ostpolitik über Flüchtlingshilfe bis hin zur 1956er Revolution in Kino-und Fernsehspielfilmen. Wolfgang Machreich

DIE UNGARISCHE REVOLUTION UND ÖSTERREICH 1956

Hg. Ibolya Murber und Zoltán Fonagy

Cernin Verlag, Wien 2006

544 Seiten, geb., e 26,-

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