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Wegweiser in die Geschichte Ungarns

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Außer Polen gibt es in Osteuropa wohl kaum eine andere Nation, deren Vergangenheit dramatischer gewesen wäre als jene der Magyaren. Das beweist auch ein jüngst erschienenes Werk über die Geschichte Ungarns ab 1867.

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Außer Polen gibt es in Osteuropa wohl kaum eine andere Nation, deren Vergangenheit dramatischer gewesen wäre als jene der Magyaren. Das beweist auch ein jüngst erschienenes Werk über die Geschichte Ungarns ab 1867.

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1849 wurde Lajos Kossuths Freiheitskampf von den österreichischen und russischen Armeen niedergeworfen. „Ungarn liegt zu Ihren Füßen, Majestät!” meldete damals stolz Feldmarschal Pas-kewitsch, der „Herzog von Jerewan”, der Sieger über die ungarisehe „Rebellen-Armee”, seinem Herrn nach St. Petersburg.

Nach einer fast zwanzigjährigen Polizeiherrschaft kam es dann zum .Ausgleich” zwischen den ungarischen Magnaten und dem Haus Habsburg. Die k. u. k. Doppelmonarchie wurde geboren. Sie bestand beinahe 50 Jahre als Ordnungsmacht im Donauraum und auf dem Balkan, eine Barriere gleichzeitig zwischen dem aufstrebenden wilhelminischen Deutschen Reich und dem erzkonservativen russischen Imperium.

Dann kam der Erste Weltkrieg, den die Ungarn gar nicht gewollt hatten.

Nach vier Jahren Krieg zerfiel das Habsburgerreich. Ungarn wurde ein unabhängiges Königreich, das man im Friedensdiktat von Paris 1920 von allen ehemaligen „Feindesstaaten” am härtesten bestrafte: Zwei Drittel seines historischen Territoriums und damit drei Millionen Magyaren wurden den Nachfolgestaaten des

Habsburg-Reiches im Donauraum einverleibt. Und zwischendurch, quasi als politische Experimente, mußten die Ungarn mit zwei Revolutionen (1918 eine bürgerliche, 1919 eine kommunistische) sowie mit einer konservativen Gegenrevolution fertigwerden.

1920 begann eine neue Ära in Ungarn: Miklos von Horthy, einst k. u. k. Admiral, wurde mit britischer diplomatischer Unterstützung in Budapest zum Reichsverweser vereidigt.

1941 trat Ungarn auf der Seite Nazi-Deutschlands in den Zweiten Weltkrieg ein. Truppen wurden an die Ostfront geschickt. Doch das Kriegsglück änderte sich: 1944 stand Stalins Rote Armee vor den Karpaten.

Hitler aber wollte klare Verhältnisse: Im März 1944 ließ er Ungarn, die geographische Drehscheibe im Donauraum, militärisch besetzen. Horthys Versuch, im Oktober 1944 durch einen Separatfrieden mit Moskau den Krieg zu beenden, vereitelte der Ex-Major und Pf eilkreuzler-Chef Ferenc Szülasi mit deutscher Hilfe mittels eines offenen Putsches. Horthy wurde nach Deutschland transportiert, der Krieg in Ungarn um weitere sechs Monate verlängert.

1945: Wieder ein neuer Anfang. Nun bekamen Ungarns Demokraten eine Chance. Doch der Kommunistenführer Mätyäs Räkosi wandelte mit Rückenstärkung sowjetischer Divisionen nach drei Jahren die frisch ausgerufene Ungarische Republik zu einer Volksrepublik sowjetischer Prägung um.

Was folgte, war eine Terrorherrschaft, deren Ausmaße jegliche ähnliche Erscheinungen in der ungarischen Vergangenheit in den Schatten stellten. So berechnete ein Budapester Gelehrter 1982 in einem Aufsatz, daß zwischen 1949 und 1955 von den zehn Millionen Bürgern der Ungarischen Volksrepublik nicht weniger als 2,5 Millionen „in irgendeiner Weise” bestraft, verfolgt oder diskriminiert wurden.

Die Folgen sind den Zeitgenossen noch gut in Erinnerung: Ein Volksaufstand im Oktober 1956, der dann, nach einem kurzen Triumph, von einem neuen Feldmarschall Paskewitsch (diesmal in

Rotarmisten-Uniform) in einem Stahlgewitter niedergeschlagen wurde. Parteichef Chruschtschow konnte sich 1958 mit Recht in Budapest brüsten, daß er die Volksdemokratie in Ungarn gerettet hätte - und mit ihr auch die seit 1945 bestehende Sowjetposition im Donauraum.

Im Winter 1956 betrat ein neuer Mann die politische Bühne: Jänos Kädär. Ihm gelang es, unter geschickter Ausnützung aller ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, für Land und Leute schrittweise einen Sozialismus ungarischer Prägung in die Tat umzusetzen.

Freilich, von 1956 bis 1963 hatte das Land unter dem Rachefeldzug der im Oktober-Auf stand 1956 gedemütigten Polizei-Leute zu leiden: Die Zahl der Eingekerkerten und Hingerichteten ist noch heute ein Geheimnis und nur der Parteizentrale bekannt.

Aber die sechziger Jahre brachten auch Positives: Eine Wirtschaftsreform, die auch den einzelnen begünstigte, vor allem aber eine menschenfreundlichere Politik, die Kädär 1961 trefflich mit folgenden Worten verkündete und die bis in unsere Tage Gültigkeit hat: „Wer nicht gegen uns ist, ist für uns!”

Nun sind die letzten 120 Jahre ungarischer Geschichte mit ihren vielen Komponenten der Gegenstand eines gelungenen Buches, das in knapp 280 Seiten ein Wegweiser zum besseren Verständnis Ungarns ist. Der Verfasser, Jörg K. Hoensch, lehrt seit Jahren osteuropäische Geschichte an der Universität in Saarbrücken.

Hoensch versteht es, eine Lektüre anzubieten, die sich bei aller wissenschaftlichen Genauigkeit spannend ausnimmt. Insbesondere vermag er die sonst häufig vernachlässigten sozial- und wirtschaftshistorischen Strömungen in die Darstellung der politischen Abläufe „seiner Geschichte” einzubinden.

Sein Werk wirkt tatsachengetreu, informativ und — was sehr wichtig ist — ideologisch unbelastet.

GESCHICHTE UNGARNS 1867-1983. Von Jörg K. Hoensch. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1984. 280 Seiten mit zwei Karten, Ln., öS 530.50.

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