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Zeitgenosse

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Der Vengleich der deutsch-österreichischen Beziehungen mit denen zwischen Brüdern mag hinken. Österreich und Ungarn hingegen sind sicher keine Brudervölker — sie waren vielmehr jahrhundertelang miteinander verheiratet. Wie eng miteinander verwoben die Geschichte der beiden Völker ist, zeigt das Col-legium Hungaricum in Wien, dem die Aufgabenstellungen eines Kulturinstitutes erst viel später zufielen, während es lange Zeit seine hauptsächliche Zweckbestimmung war, ungarischen Wissenschaftlern einen Aufenthalt in Wien zu ermöglichen.

Vor allem Geisteswissenschaftlern, und hier wiederum in erster Linie Historikern, weil, mit den Worten des gegenwärtigen Leiters Dr. Ervin Pamlenyi, „die Geschichte Ungarns vom 16. bis zum 20. Jahrhundert ohne Wien nicht schreibbar ist“.

Auch Pamlenyi, der seinen Posten vor kurzem angetreten hat, ist Historiker und hielt sich zweimal, 1964 und noch einmal, kürzer, 1966, als Stipendiat des Collegiums in Wien

auf. Er ist auf Ungarns Geschichte zwischen den beiden Weltkriegen und auf die Geschichte der ungarischen Geschichtsschreibung spezialisiert.

Sein Ziel als Leiter des Cöllegium Hungaricum: „Nicht dieses oder jenes Teilgebiet auf Kosten eines anderen besonders zu bevorzugen“, aber doch, im Rahmen des von seinen Vorgängern Geleisteten, bestimmte persönliche Akzentsetzungen. Er will, „neben der Pflege der traditionellen Gebiete“, den Österreichern, die sich dafür interessieren, einen möglichst tiefen Einblick in die historische Entwicklung der ungarischen Kultur ermöglichen, in die Entwicklung der Musik, der Literatur, der Bildenden — und auch der Angewandten — Kunst in Ungarn. Anderseits aber will er sich hier um ein noch besseres Verständnis des „heutigen ungarischen Lebens mit seinen Errungenschaften und Problemen, wie es sich in den künstlerischen Werken widerspiegelt“, bemühen.

Das Cöllegium Hungaricum hat heute eine Sonderstellung unter den Kulturinstituten und eine echte Doppelfunktion. In dem recht markanten Bau am Beginn der Hollandstraße neben den Neubauten auf dem Areal des Dianabades leben nach

wie vor jeweils acht bis zehn Post-graduate-Stipendiaten jeweils mehrere Monate in kleinen Wohnungen, um hier hauptsächlich in Bibliotheken und Archiven zu studieren. Die Nicht-Geisteswissenschaftler werden gegenwärtig von zwei Ärzten repräsentiert, deren einer sich mit Unfallchirurgie befaßt. Aber medizinische Ausbildungsmöglichkeiten gibt es in vielen Ländern, die Archivalien, die ungarische Historiker, Literaturwissensehaftler und so weiter suchen, aber nur in Wien. Während nach 1918 zwischen Österreich und der Tschechoslowakei ein Archivalientausch stattfand, erwies sich, so Pamlenyi, das Österreich und Ungarn betreffende Arohivmaterial als „untrennbar“.

Diese Untrennfoarkeit schlägt sich oft genug auch im zweiten Teil der Institutstätigkeit nieder, in der Vermittlung der ungarischen kulturellen Botschaft nach Österreich. So etwa in einer der nächsten Veranstaltungen, die dem bedeutendsten ungarischen Dichter der Aufklärung gilt, nämlich Mihäly Csokonai, der etwa den „Krieg der Frösche und Mäuse“ nach einer Blumauer-schen Übersetzung ins Deutsche ins Ungarische übertrug.,

Am 19. Mai, anläßlich der Entgegennahme des Herder-Preises an der

Wiener Universität, wird der Dichter, Literaturwissensehaftler und ungarische Grillparzer-Übersetzer

(und Redakteur des unvergessenen „Pester Lloyd“) Deszö Keresztüri im Cöllegium Hungaricum sprechen.

Das größte Interesse des österreichischen Publikums gilt freilich der ungarischen Musik. Wenn Konzerte stattfinden, ist der 400 Personen fassende Saal oft voll. Auch die Filmabende haben längst ihr Stammpublikum, am 29. April steht der „Liebesfilm“ von Istvän Läng (der vor der im Fernsehen gezeigten „Feuerwehrgasse“ entstand) auf dem Programm.

Ungarische Kulturwochen in Graz und Linz, Filmwochen in Salzburg und Innsbruck — das Interesse für die ungarische Kultur ist in Österreich vorhanden, aber das Publikum ist jung, und der Anteil jener, für die die Ehe zwischen Ungarn und Österreich ein trockenes Kapitel im Geschichtsbuch ist, weil sie sich oft genug nicht einmal für die eigene Geschichte allzusehr interessieren, ist im Steigen begriffen.

Einst: Engstes Miteinander-Verwoben sein.

Heute: Nachbarschaft. Nachbarschaft wie mit vielen anderen Völkern? Oder doch etwas mehr? Eher doch etwas mehr. Aber bei den jungen Menschen, vor allem in Österreich, oft mehr gefühlt als gewußt.

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