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Auf der Suche nach der neuen Identität

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Im Frühling des Jahres 1991 hat Slowenien vom Kommunismus offiziell Abschied genommen: aus dem Namen tilgte es das Beiwort „sozialistisch" und führte die ersten demokratischen Mehrparteienwahlen nach dem Krieg durch. Der Ausgang ist bekannt. Am 26. Juni 1991 erklärte sich Slowenien zum selbständigen Staat und erlangte nach einem zehn Tage währenden Krieg und mehrmonatigen diplomatischen Bemühungen - mit einer ausgiebigen Unterstützung Österreichs -endlich auch die allgemeine internationale Anerkennung.

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Im Frühling des Jahres 1991 hat Slowenien vom Kommunismus offiziell Abschied genommen: aus dem Namen tilgte es das Beiwort „sozialistisch" und führte die ersten demokratischen Mehrparteienwahlen nach dem Krieg durch. Der Ausgang ist bekannt. Am 26. Juni 1991 erklärte sich Slowenien zum selbständigen Staat und erlangte nach einem zehn Tage währenden Krieg und mehrmonatigen diplomatischen Bemühungen - mit einer ausgiebigen Unterstützung Österreichs -endlich auch die allgemeine internationale Anerkennung.

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Aber was haben diese zwei Ereignisse mit der slowenischen Literatur zu tun? Vielerlei. Die Einführung der Demokratie kam in Slowenien nicht von selbst, denn sie war weitgehend die Folge einer mächtigen kulturellen Tätigkeit von Publizisten und Schriftsteilem um die berühmte Zeitschrift „Nova revija", aber auch anderer Kreise. Diese zu Anfang der achtziger Jahre gegründete Zeitschrift gab in dieser Zeit im intellektuellen Leben Sloweniens entschieden den Ton an. Durch ihre publizistische und allgemeine Wirkung auf die Gesellschaft hatte sie das Toleranzniveau des herrschenden Repressionsapparates derart gehoben, daß ohne Schwierigkeiten Bücher zu erscheinen begannen, die zuvor jahrelang „im Bunker" gelegen hatten.

So wurde damals eine Reihe von gesellschaftskritischen Stücken geschrieben, während der damalige Chefredakteur der, JN euen Revue" und einer der führenden slowenischen Dichter, Niko Grafenauer, mit seinem gegen das Regime gerichteten Gedicht „Schwarzes Grab" das öffentliche Interesse für vergangene Verbrechen der kommunistischen Machthaber erweckt hatte. Es waren in der Mehrheit die Prosa-Autoren, welche den neugeschaffenen Raum nützten: Angesehene Autoren förderten eine Reihe von Romanen zu Tage, in denen die Traumata der slowenischen nationalen und politischen (Noch-) Geschichte vorbehaltlos aufgedeckt wurden und auf ein großes öffentliches Echo stießen. Igor Torkar hat in „Sterben auf Raten" die eigenen Erfahrungen der stalinistischen Nachkriegsprozesse in Slowenien beschrieben, Branko Hof-man präsentierte dem Leser - ebenso „aus erster Hand" - im Roman „Nacht bis zum Morgen" alle Schrecken des jugoslawischen Gulag-desGoliotok, und Joze Snoj hatte sich in seinem Kriegsroman „Toter Berg" über die vorgeschriebene ideologisch-propagandistische Ebene hinweggesetzt und die Problematik des slowenischen Bruderkrieges (zwischen Partisanen und Weißgardisten) von einem subjekti-vistischen, ideologisch völlig unbelasteten Standpunkt aus beschrieben.

Intellektuelle leiten Wende ein

Die Tapferkeit, die Schriftsteller und Kulturschaffende im öffentlichen Leben zeigten, hatte weiteren Gruppen Mut gegeben und letztlich zur Wende geführt. Deshab verwundert es nicht, daß die demokratischen Wahlen 1990 das sogenannte „slowenische Syndrom" („Schriftsteller beschäftigen sich mit der Politik, Politiker im Ruhestand schriftsteilem") hervorbrachten, das sich auch in anderen Ländern O steuropas gezeigt hat. So wurde etwa zum slowenischen Außenminister einer der produktivsten Romanciers und Dramatiker, Dimitrij Rüpel, zum Kulturminister der Übersetzer und Romancier Andrej Capuder, zum Parlamentspräsidenten der Publizist France Bucar, zum Ministerpräsidenten der ehemalige verantwortliche Redakteur der Revue „2000", einer .Zeitschrift für das Denken, die Kunst, kulturelle und religiöse Fragen", Lojze Peterle. Schließlich soll nicht unerwähnt bleiben, daß die Slowenen ins fünfköpfige kollektive Staatspräsidium zwei angesehene Literaten gewählt haben, Ciril Zlobec und Matjaz Kmecl, und dies, obschon sie Vertreter der ehemaligen Machtstruktur waren.

Diese Tatsache verweist unsere Aufmerksamkeit auf das zweite mit der Literatur zusammenhängende Moment von grundsätzlicher Bedeutung: die endgültige nationale Selbständigkeit. Sie wurde vom slowenischen Volk über lange Jahrhunderte hinweg angestrebt. Indem es sie nie zu erreichen vermochte, kompensierte es die unerfüllte nationale Souveränität auf einem anderen Gebiet: dem der Literatur. Da die Slowenen sich auf keine Weise mit dem Staat identifizieren konnten, in dem sie lebten (da es nicht ihr Nationalstaat war), identifizierten sie sich mit ihrer Literatur und ihren Protagonisten. In sie legten sie alle ihre heimatlichen und heiligen Empfindungen und sakralisierten sie gewissermaßen. Der romantische Dichter France Presern, Autor des nationalhistorischen Gedichts „Kreuz an der Savica", der heutigen slowenischen Nationalhymne, ist zu einem wahren nationalen Heiligtum geworden. Ein ähnlicher „größter" slowenischer Schriftsteller war Ivan Cankar, der sich in seinem Werk vorwiegend dem eigenen Volk und den Merkmalen seiner Seele gewidmet hatte.

Gegen „sozialistischen Werte"

Bis hin zum Zweiten Weltkrieg war die slowenische Literatur - in jenem Maß als sie Anerkennung fand - auch mit der Festigung der eigenen nationalen Identität befaßt. Nach dem Krieg ist diese Tendenz durch die Präsenz der betont brüderlich-einigen (jugoslawischen) Ideologie teilweise in den Hintergrund gedrängt worden, in den dem Umsturz vorangegangenen Jahren brach sie aber wieder durch, wenn auch mächtiger in der Publizistik und weniger aufdringlich in der Literatur. Dort, wo die Unabhängigkeitsbestrebung nicht unmittelbar hervortrat, zeigte sie sich auf mittelbare Weise: Sie wurde von der ausgesprochen sozialkritischen und oppositionellen Literatur wahrgenommen, welche alle kommunistischen und realsozialistischen Leistungen und Werte - einschließlich des Internationalismus -in Frage stellte und sich so mittelbar, und in zahlreichen Beispielen auch unmittelbar, im Grunde der traditionellen Partituren bediente. Mit der Einführung der Demokratie und der eigenen Staatlichkeit entfiel in gewisser Weise das hauptsächliche Raison d'etre der sakralisierten slowenischen Literatur.

Identitätskrise seit der Wende

Dies mag pathetisch und vielleicht etwas übertrieben klingen, was aber nicht täuschen sollte. Wenn nichts anderes, so erlebt die slowenische Literaturgeschichte heute ihre Identitätskrise, da sie in der gesamten nationalen Literaturproduktion „die bisherigen Werte umwerten" muß, und diesmal von ihrer national-bewahrenden Rolle absehend, überdenken müßte. Einige Anzeichen der mangelnden Bereitschaft sind im Bereich der Literatur selbst bemerkbar. Der mächtige Strom großerideologischer, dann auch anti-ideologischerund sozialkritischer Romane ist versiegt; sie werden nur vereinzelt ersetzt und in diesen Fällen kommen sie vom Umfang und der Komposition her eher der Novelle am nächsten. Die eminente Erzählform in Slowenien der letzten Jahre ist die Kurzprosa. Das letzte große unideologische und (wenn auch anders interpretierte), unkritische, romaneske Erzähl werk datiert aus dem weit zurückliegenden Jahr 1938; das ist Bartols , Alamut", das Ende der achtziger Jahre dank der großen Auflage der französischen Übersetzung in ganz Europa zu einer ungeahnten Beliebtheit gelangt war.

Nicht zufällig begeisterten sich auch die Slowenen für „Alamut" am Vorabend der schicksalhaften politischen Veränderungen. Seine Universalität fügte sich nämlich auch in die ästhetische Ausrichtung, die in der slowenischen Literaturszene der achtziger Jahre dem erwähnten sozialkritischen Roman eine immer mächtigere Konkurrenz zu machen begonnen hatte. Die Literatur geht auch in Slowenien stets ihrer Zeit voraus. Während ihr „kämpferischer Flügel" bis zuletzt an der Verabschiedung des alten Regimes mitwirkte, hatte ihr „artistischer" Flügel längst vor der politischen Verselbständigung sich eigenständig gemacht. Ende der siebziger Jahre begann Branko Gradisnik in ausgefeilter literarischer Manier unter angloamerikani-schem Einfluß Science-fiction-Geschichten mit ausschließlich literarischen Ambitionen zu schreiben. Der bekannte dissidente Autor Drago Jancar (ebenfalls Autor zahlreicher regimekritischer Stücke) prägte die slowenische Literatur der achtziger Jahre mit immanentistischen Romanen im Stil des zeitgenössischen Romans (Peter Handke, Gerhard Roth, Martin Walser) und schrieb sich mit dem „Ga-leot" und „Nordlicht" (beide bereits auf Deutsch) unter die angesehensten slowenischen Autoren ein.

Die größte Anerkennung erlangte der in der Schweiz geborene Lojze Kovacic, namentlich durch seine Romantrilogie „Zugezogene", in der er seinen Lebensweg nacherzählt. Das Autobiographische geht in seinem Schreiben restlos in die Fiktion über, die nicht an großen historischen Ereignissen, sondern an fundamentalen inneren Beweggründen im Menschen interessiert ist. Zu den intimistischen Autoren wären ohne weiteres ebenfalls Vlada Zabot, der in die undeutlichen archetypischen menschlichen Gefühle versinkt, der mit Jancar verwandte Feri Lainscek, ferner der ausgesprochene Kosmopolit Andrej Moro vic, dessen scheinbare Unbekümmertheit durch unablässige Sondierungen des eigenen Inneren unterbrochen wird, und Jani Virk, der in seiner - zwischen Scylla und Charybdis von Liebe und Tod pendelnden - Prosa die großen Themen der europäischen Literatur auf eine neue Art und Weise aufgreift, zuzuzählen.

Postmodernistische Literatur

Neben den zwei erwähnten (der sozialkritischen und intimistischen) tritt noch eine dritte, mächtige literarische Strömung in den Vordergrund: die der Postmodernisten. Autoren wie Branko Gradisnik, Andrej Blatnik und Igor Bratoz orientieren sich an Borges und der amerikanischen Metafiktion, der Hauptgegenstand ihres Schreibens ist die Literatur selbst. Mit ihrer stilistischen Brillanz und ohne ideologische Vorbelastung haben sie trotz ihrer Jugend einen beträchtlichen Schritt zur Befreiung der slowenischen Literatur vom Diktat getan.

Reichen auch die Wurzeln aller erwähnten Strömungen in die Anfänge der achtziger Jahre, so wird die Literatur nach den ersten freien Wahlen dennoch durch eine wesentliche Neuheit bezeichnet: durch Texte emigrierter und unerwünschter, aus den slowenischen Bücherregalen verbannter Autoren. Die Slowenen waren zum ersten Mal in der Lage, diese Werke einige Jahrzehnte nach der Entstehung ohne Behinderung in ihrer wahren Heimat kennenzulernen, so zum Beispiel die Romane des Volksschriftstellers Karl Mauser, die Literatur des in Wien lebenden Prosaschriftstellers und Lyrikers Lev Detela, den blendenden Roman des in Argentinien beheimateten Zorko Simcic „Mann am anderen Flußufer", die Lyrik erschossener Dichter aus den Reihen der „domoterani" (Heimwehr), das Gedicht „Schwarze Messe" des Argentiniers Tine Debeljak und so weiter. Auf diese Weise lernte der slowenische Leser die lange Zeit unterdrückte Emigrationsproblematik und die lange verschwiegene Kehrseite der „roten Revolution" kennen.

Pluralismus als Kennzeichen

Was ist also das Kennzeichnende für die slowenische Literatur nach den demokratischen Veränderungen? Obwohl sie von diesen zwei Schlüsselereignissen nicht überrascht wurde, begann sie sich zuerst den neuen Verhältnissen intuitiv anzupassen, so daß man durchaus behaupten kann, daß sie sich in einem Moment des Umbruchs einerseits wiedergefunden, andererseits nicht ganz zurechtgefunden hat. Die vom Diktat der Beförderung des nationalen Bewußtseins, der politischen Agitation und der Aufgabe der Gesellschaftskritik entledigte Literatur sucht bereits einige Jahre nach einer neuen Identität. (Namentlich in der Prosa; in der Lyrik, die sich am Ende der siebziger Jahre für die völlige Immanenz entschieden hat, ist die Situation anders.) Liegt das Wesentliche in einer Reihe junger Autoren, die seit einigen Jahren ihre Liebesromane ankündigen, ohne sie jedoch abzuschließen? Liegt das Wesentliche darin, daß sie sich für das Schreiben von Genreliteratur einsetzen, obgleich dies umzusetzen jedoch nur wenigen gelingt? Und schließlich, liegt das Wesentliche nicht im stilistischen, thematischen und poeto-logischen Pluralismus der zeitgenössischen slowenischen Literatur?

Wo sie ihre neue Identität finden wird, ist schwer vorherzusagen. Im Genre-Roman, der von der Gunst der Stunde gefördert wird, in der „fundamentalistischen" Literatur der großen existentiellen Fragen oder in der alle Regeln mißachtenden, dafür aber künstlerisch überzeugenden Phanta-stik von Milan Klee, der unter den jüngsten slowenischen Autoren die meisten Nachahmer findet? Oder ist die slowenische Lyrik mit ihrer Entdeckung des Heiligen jener Wegweiser, der auf die Zukunft der slowenischen Literatur deutet? Die Antwort auf diese Frage wird die Zeit geben.

Übersetzung aus dem Slowenischen von Ne-nad Popovic. Die Buchtitel der noch nicht auf Deutsch erhältlichen Bücher wurden übersetzt.

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