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Berichte aus dem Neunten Land

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Als Staat ist Slowenien einer der jüngsten Europas, und einer der kleinsten noch dazu. Aber seine Literatur ist viel älter, auch bedeutender und vielschichtiger, als es der Größe des Landes zukommen würde. Literatur hat im slowenischen Selbstbewußtsein immer eine große Rolle gespielt.

Die Strukturen und Eigentümlichkeiten einer Sprache zeigen sich am deutlichsten in der Lyrik. Schriftstellerverbandspräsident Boris A. Novak, selbst Lyriker, Essayist und Übersetzer - er hat gerade eine Verlaine-Übertragung abgeschlossen - gibt ein Beispiel: „Das ist eine kleine Sprache, aber eine Sprache, die sehr rhythmisch und elastisch ist, eine Sprache, die besonders adäquat für die Lyrik ist. Ich möchte nur hinweisen auf die Form des Dual - eine eigene grammatikalische Form für zwei Personen, der eine besondere Rolle in unserer erotischen Poesie spielt: Das ist eine Insel der Intimität in der Struktur der Sprache. In der Ubersetzung geht das leider verloren.”

Nicht alles ist übersetzbar, und doch ist die Übersetzung nahezu unsere einzige Chance, die Literatur einer kleinen Sprache kennenzulernen. Klaus Detlev Olof, Slawist an der Universität Klagenfurt und bedeutender Übersetzer und Vermittler slowenischer Literatur, gibt in einer Anthologie, die diesen Frühling im Hermagoras Verlag erscheinen wird, erstmals in deutscher Sprache einen Überblick über 1200 Jahre Tradition slowenischer Literatur.

Zum wichtigsten Vermittler (nicht nur) slowenischer Literatur ist in den letzten Jahren der Wieser Verlag geworden. Lektor Ludwig Hartinger ist auch Übersetzer, etwa von Srecko Ko-sovel, der 1904 in der Nähe von Triest geboren und nur 22 Jahre alt wurde, sich mit konstruktivistischen Techniken auseinandersetzte und zu einer eigenen Schreibweise gelangte: „Srecko Kosovel ist eine Entdeckung der literarischen Avantgarde in einem der blinden Flecken der europäischen Moderne. Das Charakteristische an Srecko Kosovels Dichtung kann man vielleicht so bezeichnen, daß er Naturimpression - und hier muß man unbedingt erwähnen, daß er ein Dichter jener orphischen Gegend des Karstes, des Hochlandes oberhalb von Triest ist, einer Gegend, die durch Kontraste gekennzeichnet ist: durch Licht und Schatten, durch Doline und Wind, durch Tod und Dauer - diese Naturimpression konnte Kosovel mit Sprachinvention verbinden - eine seltene Verbindung von Avantgarde und tief in der Landschaft verwurzelten Dichtung.”

Die existentielle und literarische Wurzel von Srecko Kosovel, der Karst, ist nicht nur in der slowenischen Literatur fruchtbar geworden, sondern auch in „Mein Karst” von Scipio Slataper oder in Peter Hand-kes Erzählung „Die Wiederholung”. Handke, dessen Mutter und Großeltern Kärntner Slowenen waren, hat mit dem Land und seiner Literatur eine enge Beziehung. Umso größer war die Irritation, als er sich im Essay „Abschied des Träumers vom Neunten Land” von den Bemühungen um die slowenische Eigenstaatlichkeit distanzierte. „Für Handke ist ein Lebensmodell zugrundegegangen, mit dem wir alle groß geworden sind”, sagt Klaus Detlef Olof, der selbst in Sarajevo studiert hat. „Handke konnte nicht akzeptieren, daß Slowenien auch eine Realität hat, die verschieden ist von seiner Utopie”, sagen die slowenischen Autoren, aber sie sind ihm nicht böse: Handke hat so schön über Slowenien geschrieben, und eine politische Diskussion kann diese Freundschaft nicht verletzen. Und außerdem ist das Modell der Konföderation selbständiger Staaten nicht an ihnen, sondern an Milosevic gescheitert.

Das Land, mit dem Handke nicht nur seine Kindheit verbindet, sondern auch eine „Art der Religiosität, und auch des Daseins, des Tonfalls und des Schauens”, wie er in Gesprächen mit seinem slowenischen Freund Joze Horvath formuliert hat, die 1993 in Buchform erschienen sind - das Land macht auch etwas von der Faszination der slowenischen Literatur aus.

Die überragende Figur der zeitgenössischen slowenischen Literatur ist Drago Jancar, geboren 1948 in Maribor, mit seinen Dramen und Essays, vor allem aber mit den beiden Romanen „Nordlicht” und „Der Ga-leot” und den Erzählungen „Der Sprung von der Liburnia”. Für diesen Frühjahr kündigt Ludwig Hartinger einen neuen Roman an: (Arbeitstitel: „Belächeltes Begehren”)

„Drago Jancar könnte man als einen literarischen Seismographen bezeichnen. Er hat ein Gespür für das, was in der Luft liegt, was sich verändert, für Prozesse, die sich im Inneren der Menschen, aber auch in den Zeitumständen vorbereiten - dieses Gespür in Verbindung mit der Kenntnis der modernsten literarischen Verfahren - das zusammen in eine dichte Prosa gefaßt zeigt von einer Virtuosität, wie man sie gerade auch im deutschsprachigen Roman derzeit nicht so schnell finden kann.”

Das Slowenische beschränkt sich nicht auf den eigenen Staat; Minderheiten leben in Österreich, Italien und Ungarn. In Italien sind es zirka 90.000 Slowenen, die in 35 Gemeinden in den Provinzen Triest, Görz und Udine leben. Im slowenischen Verlag von Triest publizierte der Prosaautor Miran Kosuta zuletzt seine „Rhapsodie in drei Sätzen”. Er schildert die Situation in Italien: „In Italien gibt es etwa 50 slowenische Autoren, 43 mit Buchveröffentlichungen. Einerseits ist in dieser Situation eine Befruchtung möglich, aber diese Literatur ist auch eingebettet in das Gefühl der Bedrohung der slowenischen Minderheit, die sie in Italien gerade jetzt ganz besonders spürt.”

Die Offenheit und Internationalitat Sloweniens spiegelt sich im Vi-lenica-Literaturpreis, den etwa Peter

Handke ebenso erhalten hat wie der in Amerika lebende bedeutende litauische Lyriker Tomas Venclova, den zuvor kaum jemand gekannt hat. Die Jury wird vom slowenischen Schriftstellerverband gestellt; sie arbeitet mit internationalen Konsulta-toren zusammen. Ein Almanach dokumentiert alle Autoren, die gelesen haben - auch mit Übersetzungen.

Die Offenheit nach außen hat aber regionale Verschiedenheit im Inneren nicht eingeebnet; sie spiegelt sich auch in einer blühenden Theaterkultur mit mehreren Zentren. Für Boris Novak ist sie ein wichtiger Bestandteil Sloweniens: „Obwohl Slowenien so klein ist, ist der Unterschied zwischen den verschiedenen Dialekten größer als in der russischen Sprache; dafür gibt es geographische und politische Gründe. Und es gibt einen großen Unterschied zwischen der Literatur, die im mediterranen Gebiet geschrieben ist, und der Literatur aus den slowenischen Alpen oder dem slowenischen Teil Pannoniens. Ich denke, daß diese Unterschiede etwas sehr Wichtiges für Slowenien sind. Das ist ein Zeichen des Reichtums dieser Kultur, die klein ist, aber trotzdem sehr differenziert.”

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