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Kapillar isiertes Europa?

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Fünf Tage lang war das große Gebäude der „Stazione Marittima“ von Triest kürzlich Schauplatz der ersten „Internationalen Konferenz über die Minderheiten“. Dieser von der Provinz Triest veranstalteten Begegnung war schon im November des Vorjahres eine vorbereitende Konferenz in Aurisdna (ebenfalls bei Triest) vorangegangen; damals hatten etwa vierzig Wissenschaftler und Experten aus aller Welt daran teilgenommen. Die Themen und aufgeworfenen Probleme standen auf einem hohen Niveau und versprachen einen interessanten Verlauf für die „große“ Konferenz.

Es kamen diesmal an die fünfhundert Delegierte von den verschiedensten ethnischen Minderheiten: Basken, Korsen, Elsässer, Bre-tonen, Iren, Leute aus Wales und aus dem Jura, aus dem Aostatal und aus Sardinien, Slowenen aus Österreich und Italien, Italiener aus Istrien, Bulgaren aus Südjugoslawien — kurz, Abordnungen von allen Völkergruppen, die meinen, ihre Rechte wären von der Mehrheit des Landes, in dem sie leben, in irgendeiner Weise beschnitten.

Die bewegte Geschichte von Triest prädestiniert geradezu diese einst blühende Hafenstadt für die Abhaltung eines solchen Kongresses. „Wir wollen die Lehren der tragischen Vergangenheit dieses Gebietes, nicht vergessen“, sagte Michele Zanetti, Vorsitzender des Initiativkomitees der Konferenz, und unterstrich, daß italienischerseits Vertreter aller demokratischen Parteien dieses Unterfangen unterstützt haben — außer die (neofaschistische) MSI.

Das besondere politische Klima dieses bis 1954 heiß umstrittenen Gebietes — und wie erinnerlich gab es erst vor einigen Wochen wieder eine heftige Polemik zwischen Rom und Belgrad — ließ aber diese „internationale Konferenz zu einer „bilateralen“ Auseinandersetzung zwischen Italienern und Slowenen entarten. Diese beiden Gruppen waren auch zahlenmäßig am stärksten vertreten, und im Laufe der Debatten schien man einer Lösung für Probleme der Slowenen aus den Provinzen Triest, Görz und Udine näher gekommen zu sein. Die italienischen Experten, so Prof. Sergio Bartole, ein Fachmann für Verfassungsrecht von der Universität Triest, verwerfen aber den Gedanken an ein zwischenstaatliches Abkommen und an „Pakete“ (wie bezüglich Südtirols zwischen Österreich und Italien vereinbart). Sie sind nämlich der Meinung, daß es genügen würde, die bestehenden Vorkehrungen des italienischen Grundgesetzes richtig und ausschöpfend anzuwenden, um das gewünschte Ziel zu verwirklichen, um die slowenischen Minderheiten zufriedenzustellen.

Vorgesehen oder gefordert wird: Die Anwendung der slowenischen Sprache im Schulunterricht und bei Gericht, ein eigenes slowenisches Fernsehprogramm, finanzielle Unterstützung für die slowenischen kulturellen Einrichtungen.

Die Frage der Kärntner Slowenen kam auch an Triest zur Sprache.Ihre Vertreter verteilten eifrig ein von drei in Wien studierenden Kärntern (Slowenen) verfaßtes Buch über das besagte Problem; es enthält nicht weniger als siebzehn Karten als optische Belege für die Behauptung, daß jegliche Feststellung der Minderheit überflüssig sei, weil klar sei, wo die Slowenen in Kärnten leben. Prof. Apounik aus Klagenfurt zeigte auf, wie das Zusammenlegen von kleineren Gemeinden sich für die slowenisch sprechende Bevölkerung Kärntens ungünstig auswirkt. Augustin Malle, Mitglied des Slowenischen Kulturverbandes in Klagenfurt, kam jedoch dennoch auch auf die Schwierigkeiten bei der Feststellung der slowenischen Minderheit in Kärnten zu sprechen.

Abgesehen von diesen Problemen, die den Österreichern sehr vertraut sind, wurden auch die der anderen europäischen Minderheiten ausführlich von ihren Vertretern dargelegt. So erläuterte Prof. Sagrado die schwierige Lage im Baskenland. Die Basken, erklärte er, glauben an ein vereintes Europa und wollen daran teilhaben als gleichberechtigte Partner.

Aus Frankreich allein waren Abordnungen von drei ethnischen Gruppen gekommen: aus der Bretagne, aus Occitanien (so nennt sich das Gebiet, wo die „langue d'oc“, ein mittelalterliches Südfranzösisch, auch heute noch gesprochen wird) und aus Korsika.

Zum Erstaunen (und Mißvergnügen) vieler Italiener trat ein gewisser Gianni Nazzi in Triest als Wortführer der friulanischen Minderheit auf und forderte die Anerkennung des Friulanischen als nationale Sprache. Weitere italienische „Sorgenkinder“ sind die Einwohner des Aostatals und Sardiniens.

Auch in einem Land wie Belgien, das man mehr als Zwei&prachen-gebiet betrachten kann, gibt es in der Hauptstadt Brüssel eine flämische Minderheit, die sich bedroht fühlt und deshalb mit einigen Vertretern in Triest auftrat.

Es fällt auf, daß es bei dieser Konferenz nur Delegierte aus westeuropäischen Ländern gab — abgesehen von den Jugoslawen und einigen Kurden. Letztere haben sich übrigens ausgezeichnet mit den Vertretern der IRA verstanden! Aber aus den sogenannten sozialistischen Ländern waren nicht einmal Beobachter gekommen, obwohl es auch in Osteuropa viele Minderheiten gibt: deutschsprachige Minoritäten in Polen, Sorben in der DDR, Ungarn und Siebenbürger in Rumänien, Türken in Bulgarien — ohne die sowjetischen Juden vergessen zu wollen. Jedoch heißt es in den offiziellen Berichten aus diesen Ländern, daß das Minderheitenproblem endgültig „gelöst“ wurde.

Das Schlußwort des Vorsitzenden Zanetti enthielt einen bemerkenswerten Passus: „Das Problem der Minderheiten gibt das Maß der inneren Demokratie eines jeden Staates wider und zwingt zu einem ständigen Uberprüfen der Modelle für ein Zusammenleben.“

Im klaren Text heißt das, daß die größtmögliche Verwirklichung der Forderungen aller ethnischen Minderheiten in einem immer weiter in die Ferne rückenden Vereinten Europa gelingen könnte. Das Ziel, wenn die Triester Konferenz eines Tages praktische Folgen haben soll, ist ein regionalisiertes Europa oder, wie man es formulierte, eine „kapil-larisierte Demokratie“.

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