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Die Literaturen der abendländischen Völker

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Der Begriff des Abendlandes kann sinnlich, das heißt erdkundlich-geschichtlich und zugeordnet politisch gefaßt werden; oder übersinnlich, vom Geiste ausgehend. Der erste Weg ist zuletzt materialistisch, der zweite idealistisch: ihn wählt der Verfasser.

Da, nach einem Ausspruche Goethes, die Griechen unter allen Völkerschaften den Traum des Lebens am schönsten geträumt haben, und Horaz bekannte: „Graecia capta ferum victorem cepit“, ist es richtig, den Bau des abendländischen Schrifttums auf den Grundsteinen der Antike zu errichten. Nahezu ein Drittel des Werkes dient demnach der Literatur der Griechen und Römer. Wenn wir die Fortwirkungen (auch in der an dieser Stelle bereits besprochenen Deutschen Literaturgeschichte des gleichen Verfassers) betrachten, klingt der Satz Schillers von der Sonne Homers, die auch uns leuchtet, in wundersamer Weise auf. An Umfang der Behandlung reiht sich sodann das englische Schrifttum an (106 Seiten, davon ein Drittel für Shakespeare), gefolgt vom französischen (46 Seiten). Bei diesen verhältnismäßig ausführlichen Abschnitten entfaltet sich ein bezwingend pädagogischer Sinn und eine bei knappem Ausdruck (viele Inhaltsangaben) größtmögliche Allgemeinschau.

Die anderen Literaturen können im Rahmen eines Studienbehelfes nur skizzenartig gehalten sein, und ehrlich sind diese Abschnitte jeweils als „Abriß“ gekennzeichnet. Weiterforschende sind auf das Fachschrifttum verwiesen. Vielleicht hätte bei der französischen

Literatur das Buch von Otto Forst-Battaglia „Die französische Literatur der Gegenwart 1870—1914", Wiesbaden 1925, gelegentlich einer neuen Auflage ebenso noch Platz wie bei Ungarn die Literaturgeschichte von

Katona-Szinneyei, Göschen 1911, in diesem Falle mit dem für Ungarn bis zur Jahrhundertwende dienlichen reichhaltigen Quellenweiser.

Abgesehen von einigen wenigen Druckfehlern (so bei Shaw „Cadida" statt „Candida“; bei Sterne „Lourney" statt „Journey"), wurde übersehen, daß Thomas Wolfe nicht mehr lebt (gestorben 1938). — Dem aufmerksamen Leser des Abschnittes über die tschechische Dichtung fallen die Fragezeichen nach den Todesdaten auf. Hier macht sich ein Zustand geltend, an dem der Verfasser keine Schuld trägt: Politik und Abschließung siegen über Wissenschaft. Immerhin kann ich für die nächste Auflage einige Daten nennen. Josef Svatopluk Machär, geboren 1864, starb 1942; Jan (nicht Jahn) Herben verschied 1936; Fran- tisek Xaver Saida 1937, Jifi WoLker 1935 (nicht 1924), Jaroslav Hilbert 1936, Ignät Hermann 1935. Petr Bezruc (Vladimir Vasek) feierte am 15. September 1952 seinen 85. Geburtstag. Viteslav Nezval war wohl in seinem ersten Buche 1926 und 1936 in „Prag mit Regenfingern im Grunde tendenziös (wenn es überhaupt Dichtung ohne Tendenz gibt!), wie das Buch angibt; heute ist er jedoch die repräsentative lyrische Persönlichkeit der tschechoslowakischen Volksrepublik. Marie Majerovä lebt noch, ihr Buch „Sirena“ gab einem preisgekrönten Biennalefilm 1947 die Grundlage.

Man könnte noch Marie Pujmanovä anführen („Lide na Krlzovatce") und Pavel Bojar. Fran- tiäek Langer hat sich übrigens auch politisch ausgerichtet. Von der Linie abgewichen 6ind (die nicht genannten) Epiker Knap, Kfelina und Proküpek sowie der Lyriker, Hölderlin- und Rilke-Übersetzer Jan Zahradnicek. Gerade an diesen wenigen Beispielen 6ieht man, wie heute in der Nachbarschaft viel im Flusse und wie schwer es ist, die uns Österreichern eigene Sachlichkeit und Toleranz auszuüben.

Zusammengefaßt: das Buch ist eine wichtige Ergänzung jeder Literaturgeschichte, erweiterungsfähig, also organisch lebend, und für Schule und Heim gleicherweise verwertbar.

Hanns Salaschek

Aus der Tiefe. Ada Christens Lebensroman.

Von Marianne Lukas. Volksbuchverlag, Wien 1952. 378 Seiten.

Die österreichische Dichterin Ada Christen (1844 bis 1901) ist heute zu Unrecht fast vergessen. Ihre „Lieder einer Verlorenen“ erregten einst wegen ihrer rückhaltlosen Offenheit und ihrem Ton der sozialen Anklage großes Aufsehen, ihre Erzählungen und Skizzen aus dem Milieu der Alt-Wiener Vorstadt mit ihren lebensvoll gezeichneten Gestalten sind auch heute noch sehr lesenswert. „Aus der Tiefe“ war der Titel eines- Gedichtbandes, und aus der Tiefe mußte sich diese Dichterin mit dem leidensdiaftlichen Herzen während ihre6 wechselvollen, an harten Prüfungen reichen Lebens immer wieder tapfer emporringen. Der Roman ist gut aufgebaut Marianne Lukas läßt Ada Christen innerhalb einer Rahmenhandlung ihr Leben einem jungen Schriftsteller erzählen. Wir erfahren von ihrer traurigen Jugend, ihrer Laufbahn als Schauspielerin auf eine; Vorstadtbühne und bei Wanderkomödianten, von ihrer ersten tragisch endenden Ehe, ihrer dunkelsten Zeit in Wiener Vergnügungslokalen und schließlich von ihrem Weg als Schriftstellerin, den Ferdinand von Saar bereiten half. Leider hat die Verfasserin nicht immer auf den natürlichen Ton der mündlichen Erzählung genügend geachtet. Der Stil wirkt veraltet. Trotz literarischer Mängel aber ist dieser Versuch, Persönlichkeit und Werk Ada Christens der Öffentlichkeit nahezubringen, anerkennenswert. Dr. Theo Trümmer

Ein Reich zerbricht. Von Franz B r a n d 1.

Verlag Kremayr & Scheriau, Wien. 778 Seiten.

Besonders fesselnd wirkt es nicht, was Wir hier über den Werdegang und die Erlebnisse dreier Generationen einer altösterreidiischen Beamtenfamilie erfahren. Ihre Geschichte bildet auch sozusagen nur den Rahmen des Themas, welches im Titel des Buches angedeutet ist: die folgenschwere Entwicklung — ihren Ausgangspunkt sieht der Autor im überstürzten Präliminarfrieden von Villa- franca —, _die zur Auflösung der Donaumonarchie geführt hat. Manches von dem, was Brandl seinen Akteuren in den Mund legt, ist historisch richtig; manches besteht lediglich io der Wiedergabe von phantasievollen Histörchen, die schon unzählige Male, und meist viel gewandter, erzählt worden sind; vieles aber, und besonders die Behandlung der Nationalitätenfrage, die in diesem Buch einen breiten Raum emnimmt, zeigt eine Voreingenommenheit und einen Mangel an Logik, die in Erstaunen versetzen.

Man kann nicht, so begründet dies an sich auch wäre, den 67er-Ausgleich als eine grobe Ungerechtigkeit gegenüber den nichtmagyarischen Völkern Ungarns und als eine Versündigung an der übernationalen Mission des Habsburgerreiches verurteilen, zugleich aber sich darüber entrüsten, daß die Slawen Zis- leithaniens nicht dauernd gewillt blieben, eine Vorherrschaft der deutschsprachigen Österreicher anzuerkennen, oder daß eine österreichische Regierung, angesichts der deutsch- liberalen und alldeutschen Opposition, keihe andere Wahl sah, als sich auf eine slawische Mehrheit zu stützen. Aber manche Leute verstehen es eben, alles Mögliche und Unmögliche zu kombinieren: Haß gegen das Christentum und die katholische Kirche, schärfste Ablehnung des Juden, des Marxisten und des Preußentums, Begeisterung für die angeblich alles überragende Macht des Nationalismus und nicht minder begeisterte Anhänglichkrl an Altösterreich und seine katholischen Monarchen Freilich, „heute ist Demut eine Anomalie“ — so behauptet Brandls Held, der junge Mühlwert. Dieses Wort erklärt manches; auch die Geistesverfassung jener, für die selbst die Ereignisse von 1945 keine genügende Lehre waren.

Kurt Strachwitz

Katharina Das Ehrenwort. Zwei Erzählungen von Bernt von Heiseier. C. Bertelsmann 1952. 70 Seiten.

Diese zwei Erzählungen, in der äußeren Gewandung wohl „historisch“, in der unerbittlichen Problemstellung aber von einer geradezu bebenden Zeitnähe, konnten nacht ohne das Erlebnis zweier ungeheuerlichen, den ganzen Menschen erfüllenden, mitreißenden und zermalmenden Kriege geschrieben werden. — Katharina, das sechzehnjährige Südtiroler Senmmädchen, tötet in den Maitagen des Jahres 1701 einen versprengten französischen Offizier und Edelmann, der den denkwürdigen Marsch des Prinzen Eugen über das Gebirge zu gefährden droht — noch als einsame, alte Frau schwer daran tragend und wohl wissend, „daß sie das Heil ihrer Seele verspielt habe, denn solch eine Tat werde nicht vergeben. Aber käme die Stunde noch einmal, so müßte sie doch wieder das gleiche tun.“ — Das Ehrenwort, nicht mehr gegen Deutschland zu kämpfen, hat der französische Secondeleutnant Jacques Lantier 1870 den Siegern von Sedan gegeben und wurde darauf nach Paris entlassen. Bei der Belagerung der Hauptstadt stellt sich das Unlösbare, Unentrinnbare seines

Schicksals heraus, aus dem ihn ein barmherziger .Granatsplitter erlöst. — Mit vornehmer Zurückhaltung, das Fürchterliche der Fragestellung hinter einer fast nüchternen Gegenständlichkeit der erzählten Handlung verbergend, spürt Heiseier doch das tiefe Ethos der Fabel auf: seine Gestalten zerbrechen nicht an einem fatalistischen Sich-selbst-Aufgeben oder einem faulen Kompromiß, sondern an einer entschiedenen Aktion ihres Gewissens — modernste Resistenten und Partisanen, zeitlose Opfer und Helden.

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