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Digital In Arbeit

Kaleidoskop und Panorama

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Zunächst einige Angaben des Verlags bzw. der Herausgeber, wie sie sich ihre Arbeit gedacht, welche Grenzen sie sich gesteckt haben. Das gesamte Lexikon, von dem der erste Band vorliegt, enthält rund 1900 Artikel. Der Begriff „Literatur“ wird im engeren Sinn verstanden, das heißt auf die drei Hauptgattungen (Epik, Lyrik, Dramatik) eingeschränkt. Aufgenommen wurden nur lebende Schriftsteller und solche, die erst nach 1900 gestorben sind. Für deutschsprachige Autoren wurden die Grenzen bewußt weiter gezogen. Die Abbildungen lind nicht alphabetisch, sondern länderweise gruppiert. Bei der Schreibweise ausländischer Eigennamen habe man sich „nach den Gepflogenheiten der international gebräuchlichen Umschreibung“ gerichtet. Verantwortlich zeichnen: das Forschungsinstitut für europäische Gegenwartskunde, Wien, und das Lexikographische Institut des Herder-Verlags. Die meisten der 350 Mitarbeiter haben ihre Beiträge voll signiert, einige weniger wichtige oder ausgefallene Themen behandelnde Kurzartikel wurden von den Herausgebern selbst beigesteuert.

Wer über ein solches Werk urteilt — unseres Wissens das erste dieser Art in deutscher Sprache, welches die zeitgenössische Literatur behandelt —, tut gut, sich die immensen Schwierigkeiten klarzumachen, die allein der formidable Stoff bereitet. Da steht zunächst die Frage zur Diskussion: Was ist „Weltliteratur“? Das, was einmal überzeitliche Geltung haben wird (das können wir als Zeitgenossen nur mutmaßen) oder was heute, mit einigem Anspruch auf Qualität, gedruckt und gelesen wird? Herausgeber und Bearbeiter haben sich für die zweite Definition entschieden und bauen vor dem Leser ein vielfarbiges Kaleidoskop monographischer Darstellungen (von nur wenigen Zeilen bis 15 Spalten) auf. Hierbei hat man sehr häufig als Verfasser der einzelnen Beiträge jeweils Landsleute der betreffenden Autoren zu Wort kommen lassen, in der Annahme, daß diese am besten mit der Materie verttaut sind und am ehesten beurteilen können, was ein Dichter in seinem Heimatland gilt.

Zu diesen monographischen Artikeln einige Anmerkungen: Die bedeutendsten Dichter wurden meist sehr kompetent dargestellt, und man hat ihnen auch den entsprechenden Platz eingeräumt (Benn, Ber-nanos, Bloy, Claudel, Eliot, George, Gide, Hamsun, Hardy, Hesse, Jahnn, Joyce, Jünger). Alle diese Artikel sind mit einem Werk- und Literaturverzeichnis versehen und bringen, anschließend an die Darstellung durch den betreffenden Referenten, maßgebliche Urteile aus anderen Federn über den behandelten Autor. Der Leser kann sich also vielfältig orientieren. Schwierigkeiten und Lücken ergeben sich eher bei den Kleineren. Das Urteil über den „deutschen“ Schriftsteller, Maler und Bildhauer Hans Arp (der sich auch Jean Arp schrieb) ist oberflächlich und unrichtig (vergleiche hierzu etwa den zweispaltigen Arp-Artikel in „DADA — Monographie einer Bewegung“, herausgegeben von Willy Verkauf). Bei dem Rumänen Tudor Arghezi hätte sein Einschwenken in die sozialrealistische (lies: konformistische) Linie vermerkt werden müssen. — Wer den Roman „Prinz Kuckuck“, ein kulturgeschichtliches Dokument ersten Ranges, aufmerksam gelesen hat, käme wohl zu einem etwas gewichtigeren Urteil über O. J. Bierbaum. Johannes R. Becher ist zu sehr von seiner letzten, unrühmlichen Phase her gesehen, er war eine der markantesten Erscheinungen des Expressionismus (siehe „Menschheitsdämmerung“ von Kurt Pin-thus). Gut und treffend: die Beiträge über Altenberg, Auden, Barlach, Borchardt, Borchert, Cocteau, Hartlaub, Hasek, Jimenez u. a. Aber Giono zweieinhalb Spalten und Ghelderode nur eine — ob das richtig ist? Die Artikel über Hans Grimm (der keineswegs nur „Volk ohne Raum“ geschrieben hat) und Friedrich Griese müssen wohl bald neu redigiert werden, beide waren hervorragende Schriftsteller, ja Dichter, deren Namen heute von politischen Ressentiments (im Fall des ersteren: wohlberechtigten) verdunkelt sind. Das gleiche gilt auch von Hamsun (mit interessanten Urteilen kritischer Zeitgenossen).

Neben den monographischen Beiträgen finden wir eine große Anzahl meist umfangreicherer Darstellungen der einzelnen literarischen Gattungen, literarischer Strömungen, besonderer Probleme und Ausdrucksformen sowie Übersichtsartikel zu den einzelnen Nationalliteraturen. In den meisten dieser „Panorama“-Artikel steckt eine enorme Arbeit, dokumentiert sich eine oft lebenslange Beschäftigung mit dem betreffenden Gegenstand: Christliche Dichtung, Dadaismus, Expressionismus, Feuilleton, Futurismus, Humor, Ironie; über amerikanische, albanische, bulgarische, deutsche, englische, französische, friesische, hebräische, iranische, irische, isländische, italienische, japanische, jiddische und jugoslawische Literatur. Hier finden sich auch viele Dichter, die man im Alphabet zunächst vermißt, ebenso zahlreiche Essayisten, Kritiker, Philosophen usw. Daß die letzten, aber auch die bedeutenden Romanisten Curtius, Voßler und Wechsler, die Germanisten Nadler und Alewyn (um nur einige zu nennen) nicht monographisch gewürdigt wurden, mag mancher Benutzer des Lexikons bedauern. Aber irgendwo mußte eine Grenze gezogen werden.

Ein großer Vorteil: der Verlag hat den einzelnen Mitarbeitern größte Freiheit, was die Form ihrer Darstellung betrifft, gelassen. Es wurde also nicht nach einem bestimmten Schema gearbeitet. Das bedingt eine gute Lesbarkeit der meisten Beiträge, die oft einen literarisch-feuilletonistischen Schliff haben, wie man ihn in lexikographischen Werken sonst nicht findet. — Man kann also in diesem Buch stundenlang lesen, und ist dankbar für die vielfältige Belehrung und Anregung, die man empfängt. Sehr zahlreich sind auch die Querverbindungen, welche aufgezeigt werden: verschiedener Autoren untereinander und zu den Nachbarkünsten. Auf diesem Gebiet haben einzelne Mitarbeiter Hervorragendes geleistet, und die Herausgeber taten gut, ihnen Spielraum zu geben.

Von großem Vorteil für den Benutzer sind auch die Angaben über deutsche Übertragungen der Werke ausländischer Autoren. Bei den meisten Titeln (die zunächst in der Originalsprache angegeben sind) finden sich auch die deutschen Übersetzungen. Freilich war bei der Umschreibung der slawischen Namen — die ja ein schwieriges Kapitel bilden — der Verlag nicht gut beraten. Der Geburtsort des in Frankreich lebenden russischen Dramatikers Adamow findet sich hier „Kislowock“ geschrieben — und wird Kisslo-wodsk gesprochen. Der bekannte rote Reitergeneral Budjonny hat sich in „Budenny“, Anton Tschechow in „Cechov“ und Scholochow in „Solochow“ verwandelt. Das ist nicht nur ein Manierismus, sondern auch eine nicht zu rechtfertigende optische An-gleichung des Russischen ans Tschechische und Kroatische — was sehr irreführend ist. Da bleibe man schon lieber bei der nicht immer einheitlichen, aber das Lautbild genauer transkribierenden konventionellen Schreibweise.

Aber das sind nur Randbemerkungen zu einem wohlausgestatteten, sauber gedruckten, in seiner Art hervorragenden, großzügig konzipierten und gewissenhaft ausgeführten Werk, dem gegenwärtig wohl nichts Ähnliches an die Seite gestellt werden kann.

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