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Literatur, Sprache und Kritik

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EINE GESCHICHTE DER DEUTSCHEN LITERATUR. Von Wolfgang Schwerbrock. Scheffler-Verlag, Frankfurt am Main. 215 Seiten. Preis 12.80 DM. — SPRACHE IM TECHNISCHEN ZEITALTER. Vierteljahresschrift. Verlag Kohlliammer, Stuttgart. Einzelpreis 4 DM. - BESONDERHEITEN DER DEUTSCHEN SPRACHE IN ÖSTERREICH fund Südtirol). Von Doktor H. Rizzo-Bauer. Im Dudenverlag, Bibliographisches Institut, Mannheim. 131 Seiten. Preis 12 DM. — LITERATUR UND LÜGE. Von Karl Kraus. SPRACHE IN DER VERWALTETEN WELT. Von Karl Korn. DATEN DEUTSCHER DICHTUNG (Band II). Von H. A. und E. F r e n z e 1. DIE KRISE DES HELDEN. Von Karl Reinhardt. MEISTER DER DEUTSCHEN KRITIK. Herausgegeben von G. F. Hering. Sämtlich im Deutschen Taschenbuchverlag. Großband 3.60 DM, Normalband 2.50 DM. - WÖRTERBUCH DES WIENER DIALEKTS. Von Julius Jakob. Verlag „Casa del Libro”, Doktor Gustavo Brenner, Cosenza. 233 Seiten. Preis 80 S.

Abgesehen von mehreren gut brauchbaren Handbüchern sind in den letzten Jahren keine größeren Unternehmungen umfassender Literaturkunde im deutschen Sprachraum zu verzeichnen, die voll gelungen wären; die Schwerpunkte lagen beim Essay über Detailprobleme. Auch das vorliegende Werk von Wolfgang Schwerbrock füllt die Lücke nicht. Mit einem Umfang von 215 Seiten ist es zu klein geraten, um einen auch nur einigermaßen vollständigen Überblick zu gewähren. Die Folge davon war eine Auswahl, deren Gesichtspunkte allerdings schleierhaft bleiben. Einerseits sind Autoren genannt, denen keine überzeitliche Bedeutung zukommt, anderseits welche ausgelassen, die man schmerzlich vermißt.

Wenn Schwerbrock beispielsweise über Nestroy, Mell, die Handel-Mazzetti, die Wied oder Doderer nichts zu sagen weiß, anderseits aber, sagen wir, Bruno Brehm, Erwin Guido Kolbenheyer, Hanns Johst, Will Vesper einer Erwähnung für wert befindet, sei es pro oder kontra, so stimmen die Maßstäbe nicht. Wenn er Goethe viereinhalb Seiten widmet und Brecht sechs, so stimmen sie noch weniger. Wenn er den höchsten Rang des Schriftstellers im 19. Jahrhundert mit aller Ausschließlichkeit des Superlativs Nietzsche und etliche Kapitel später ebenso unverblümt Adalbert Stifter zuspricht, so ist das ebenso ungenau, wie wenn er sich unterfängt, Karl Heinrich Waggerl als den (einzigen, wie aus der Gesamtlektüre hervorgeht) legitimen Nachfolger Stifters zu inthronisieren. Daß er ferner 95 Prozent aller fremden Einflüsse von der Antike bis T. S. Eliot, Claudel oder Tennessee Williams großzügig fortläßt, während er doch wieder allerlei Namen nennt, Horaz etwa oder Thornton Wilder, so ergibt das insgesamt ein Konfusion, denn auch hier sind keine verbindlichen Auswahlgesichtspunkte feststellbar.

Das einzige Motiv, das eine derartige Willkür (doch auch die sollte irgendeine Art von Struktur sehen lassen) gerechtfertigt hätte, nämlich eip Versuch, if,, kurzen Essays zu einzelnen Gestalten Stellung zu nehmen, wäre bei der gewählten Art des Buchaufbaues ein Nonsens und scheint auch nicht beabsichtigt gewesen zu sein. Man wird mit hunderten Namen konfrontiert, von denen die allermeisten bloß zitiert sind (etwa so: Franz Blei und Max Mell schrieben für die „Herderblät- ter”). Kein Wort der Erklärung, wer die beiden waren, was sie wollten, welche Funktion sie ausübten. Unter solchem Aspekt ist ein Namenregister, das sich stattlich ausnimmt und mehr als 800 Namen (darunter aber auch etliche verloren dastehende Titel von Werken) aufweist, eine Irreführung, die verstimmt. So entstand ein Werk, das weder sachliche Vollständigkeit besitzt, noch einen Auswahlband über die Elite darstellt, noch als enfant terrible in Pamphletform gelten kann, dem man jegliche Eigenwilligkeit zugestanden hätte. Ein totaler Fehlschlag.

„Sprache im technischen Zeitalter”, eine

Zeitschrift, die sich kaum mehr wegdenken läßt, obwohl sie erst 1961 zur Welt kam, übt eine echte Funktion aus. Wir zitieren etliche Themen in den uns zur Besprechung vorgelegten Heften: Methoden der automatischen Sprachübersetzung — Das Widerspiel von Bild und Sprache — Sprachnorm, Grammatik und technische Welt — Zur Entwicklung der deutschen Sprache diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs — Der Terror des Mythischen im technischen Zeitalter — Theoretische Neuerungen in der Sprachwissenschaft — Möglichkeiten des Hörspiels. Jedes dieser Themen ist mit stupendem Wissen behandelt; mehrmals konnten wir feststellen, daß uns Analysen von höherem Niveau als dem hier Vorgefundenen in den letzten Jahren nicht begegnet sind. Sind auch nicht alle behandelten Gebiete, streng genommen, unter dem Titel „Sprache” unterzubringen, so sind es doch dann gerade außerhalb des ursprünglichen Rahmens liegende Analysen, „trotzdem” aufgenommen, die als besondere Leckerbissen (wie etwa die ebenso gescheite wie ergötzliche Arbeit von Schmidt-Henkel, „Kriminalroman und Triviallitcratur”) das Gesicht der Zeitschrift mitbestimmen. Insgesamt eine Publikation, die aus der beträchtlichen Spannung zwischen ihrem weitgehend objektiv-sachlichen Kern und den Randgebieten mit sympathisch subjektiven Arabesken, Floskeln, gelegentlichen Irrtiimern, Apercus und Bosheiten lebt. Zuletzt noch ein P. S.: Die Einführung eines fühlbar ermäßigten Studentenabonnements für „Sprache im technischen Zeitalter” ist eine freundliche Geste, die auch hierzulande Nachahmung verdient.

In Der Duden-Beitrag Nummer 5 in der Soytderreihc, welche die deutsche Schriftsprache im Ausland behandelt, ist Österreich und Südtirol gewidmet. Vom Bos- nickel bis zum Thaddädl (im Absatz über Schimpf- und Necknamen) wird der Herkunft und dem Sondergebrauch einzelner Ausdrücke nachgegangen, und ebenso werden alle Lebensgebiete untersucht. Da gibt es viel, das auch dem gelernten Österreicher zu entgleiten droht oder bereits entglitten ist. Wer wagt es noch, statt „die Brillantine” schlicht „das Brillantin” zu sagen? Ist nicht die scheußliche Bezeichnung „Psyche” für Toilettentisch im Aussterben — und sehen wir diesem verdienten Tod nicht doch auch mit gut versteckter Melancholie nach? Oder: Haben wir uns schon einmal darüber Rechenschaft abgelegt, weshalb die kleine Dirn nicht Dirnl, sondern Dirndl geheißen wird, und die kleine Haue nicht Häuel, sondern Häunel? (Es geschah wegen des Wohllauts.) Was hier für den Laien lustig aussieht und auch ist, geht den Fachmann sehr an —, für beide Bereiche ist das Sonderheft geschaffen und dürfte bald eine entsprechende Verbreitung finden, zumal die mit Akribie geleistete Arbeit jedem Anspruch genügt.

Schließlich sei auf die fünf Bändchen des tüchtigen Deutschen Taschenbuchverlages hingewiesen, die im Mittelpunkt unserer Thematik stehen. „Literatur und Lüge” von Karl Kraus liest sich ebenso frisch und informativ wie ehedem; „Sprache in der verwalteten Welt”, Untersuchungen von Karl Korn, zum Vorteil der Taschenbuchkäufer gegenüber der Erstausgabe sogar noch erweitert, verdienen immer noch Adornos Lob: „Wahrhaft unerschrocken”; die „Daten deutscher Dichtung” von H. A. und E. Frenzei (Band II, Biedermeier bis Gegenwart) sind nach wie vor ein unschlagbares Handbuch; „Die Krise des Helden”, Beiträge zur Literatur- und Geistesgeschichte, von Karl Reinhardt, haben ihren alten Glanz bewahrt; „Meister deutscher Kritik 1730 bis 1830” in der Reihe der dtv-Do- kumente bieten besondere Leckerbissen von Gottsched bis Hegel. Das altberühmte „Wörterbuch des Wiener Dialekts” von Julius Jakob, erschienen 1929 im Wiener Buch- und , Kunstverlag Gerlach & Wied- ling, jetzt als photomechinische Wiedergabe (ein echtes Kuriosum) durch Dottore Gustavo Brenner im Verlag „Casa del Libro”, Cosenza, in limitierter Auflage herausgebracht, stellt, obwohl ohne jeglichen wissenschaftlichen Apparat, in jeder Bibliothek eine kleine Kostbarkeit dar.

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