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Auslese und Nachlese

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SCHERZ BEISEITE. Die Anthologie der deutschsprachigen Prosa-Satire von 1900 Ms sur Gegenwart. Herausgegeben von G. H. Herzog und Ehrhardt Helnold. Scherz-Verlag München - Bern . Wien. S60 Selten. DM 28.—. — JAHRESRING 66/67. Beiträge zur deutsehen Literatur und Kunst der Gegenwart. Herausgegeben vom Kultur-kreis Im Bundesverband der deutschen Industrie, bearbeitet von Rudolf de le R o I, Hans Bender, Eduard Trier, Deutsehe Verlagsanstalt, Stuttgart 425 Seiten mit S schwarzweißen und 12 mehrfarbigen Abbildungen. DM 16.80. — GRENZGÄNGE. Essays, Reden, Träume, von Ernst Jünger. Ernst-Klett-Verlag, Stuttgart 1966. 137 Selten.

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SCHERZ BEISEITE. Die Anthologie der deutschsprachigen Prosa-Satire von 1900 Ms sur Gegenwart. Herausgegeben von G. H. Herzog und Ehrhardt Helnold. Scherz-Verlag München - Bern . Wien. S60 Selten. DM 28.—. — JAHRESRING 66/67. Beiträge zur deutsehen Literatur und Kunst der Gegenwart. Herausgegeben vom Kultur-kreis Im Bundesverband der deutschen Industrie, bearbeitet von Rudolf de le R o I, Hans Bender, Eduard Trier, Deutsehe Verlagsanstalt, Stuttgart 425 Seiten mit S schwarzweißen und 12 mehrfarbigen Abbildungen. DM 16.80. — GRENZGÄNGE. Essays, Reden, Träume, von Ernst Jünger. Ernst-Klett-Verlag, Stuttgart 1966. 137 Selten.

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Die Herausgeber der Anthologie „Scherz beiseite“ erklären im Vorwort, daß sie sich bei der Auswahl an keine Ordnungsprinzipien gehalten haben. „Ohne unser Zutun stellten sich Beziehungen her, begannen Texte sich gegenseitig zu kommentieren. In chronologischer Ordnung sprechen die Beiträge am deutlichsten. Sie reihen sich auf zu einer deutschen Geschichte der letzten 66 Jahre, wie sie nicht im Lesebuch steht.“ Und nicht nur der deutschen, wäre zu ergänzen, scheinen doch unter den Autoren mehr als ein Dutzend Österreicher auf, von Blei, Brod, Doderer, Friedeiii, Herzmanovsky-Orlando über Meyrink, Musil, Polgar, Roda-Roda bis zu Merz/Qualtinger und Torberg. Einer der besten: Karl Kraus, fehlt. Weil eine Reihe von in die Auswahl aufgenommenen Autoren es dem Inhaber der Urheberrechte unmöglich gemacht hätte, „im selben Band Texte von Karl Kraus zu veröffentlichen“. Dif-ficile est satiram non scribere! Dabei gibt es bis heute keine befriedigende Definition der Satire. Der Große Brockhaus versteht darunter eine „Literaturgattung, die durch Spott, Ironie, Übertreibung bestimmte Personen, Anschauungen, Ereignisse oder Zustände kritisieren oder verächtlich machen will“. Schiller definierte: „In der Satire wird der Widerspruch der Wirklichkeit mit dem Ideal zum Gegenstand gemacht, die Wirklichkeit als Mangel dem Ideal als höchster Realität gegenübergestellt.“ Kurt Tucholsky, der so bittere, geistreiche und treffsichere Satiren schreiben konnte, sagte es etwas einfacher und anschaulicher: „Der Satiriker ist ein gekränkter Idealist: er will die Welt gut haben, sie ist schlecht, und nun rennt er gegen das Schlechte an. — Die Satire muß übertreiben und ist ihrem tiefsten Wesen nach ungerecht. Sie bläst die Wahrheit auf, damit sie deutlicher wird, und sie kann gar nicht anders arbeiten als nach dem Bibelwort: Es leiden die Gerechten mit den Ungerechten. — Was darf die Satire? Alles.“ Diese Sätze, die Kurt Tucholsky alias Ignaz Wrobel 1919 schrieb, stehen in dem Beitrag „Was darf die Satire?“, der den Sammelband einleitet. Entsprechend ist Tucholsky darin am stärksten (mit vierzehn — freilich nicht gleichwertigen — Beiträgen) vertreten.

Die Auswahl reicht zeitlich von 1900 bis Mitte 1966, wobei die Herausgeber, wie es im Umschlagstext des Verlages heißt, vor allem „unbekannte Autoren ans Licht holen“, „Brennpunkte politischer Polemik“ erforschen wollten, um so „manche Perle zutage zu fördern, von der sich bisher keine Literaturwissenschaft etwas träumen ließ“. Im großen ganzen trifft die Ankündigung zu, wenn auch hier die echten „Perlen“ satirischer Würze und Schärfe selten sind, manche davon sich doch als recht zeitgebunden und kurzlebig erweisen. Denn nur bei den Meistern überlebt die Substanz ihrer polemischen Leidenschaft die Anlässe, steht ihr Wort, das sich gegen Personen, Zustände oder Denkweisen richtet, nicht auf demselben Boden wie das Angegriffene, sondern in einer anderen Dimension. Gleich zu Beginn, da sich die Satire eher als seicht-freundliche, belanglose Unterhaltung erweist, findet sich ein wahres Meisterstück, Gustav Meyrinks „Das verdunstete Gehirn“, eine im November 1906 im „Simplizissimus“ erschienene phantastische, unheimlich prophetische Groteske gegen den Militarismus. Um noch einige Beispiele aus späterer Zeit zu nennen, die man mit hellem Vergnügen liest, weil hier das Lachen zum Denken unter Beteiligung des Zwerchfells wird: Robert Musüs Antwort auf die Rundfrage (1926!) „Wohin geht das heutige Burgtheater Ihrer Meinung nach?“; Wolf gang Hildesheimer (1952) „Ich schreibe kein Buch über Kafka“; Heimito von Doderer (1958) „Untergang einer Hausmeisterfamilie zu Wien im Jahre 1857“. Doderer schildert darin einen Mietersturm mit „desodorierenden und desinfek-tiven“ Waschmitteln gegen „jene eigentümliche und durchdringende Ausdünstung, die von allen hausmeisterlichen Individuen ausgeht und deren Behausung'erfüllt“. Merz und Qualtinger (1959) „Barock around the clock“; Sibylle (1962) „Weekend in Kitz“; Eckart Hachfeld (1965) „Lernt Tschechisch, Kinder!“. Ein auf vielen Seiten vergnügliches Buch.

Auch der neue „Jahresring“, der dreizehnte in seiner Reihe, zeigt, wie immer, das Problematische dieser teils berichtenden, teils kritischen Querschnitte. Lyrik, Prosa, Reden, Briefe, Essays über Literatur, bildende und darstellende Kunst, über Fragen des modernen Theaterbaus und über Opernprobleme stehen neben Darstellungen literarischer Wechselwirkungen, Theater-, Opern-und Ausstellungschroniken sowie Nachrufen. Als besonderes Beispiel dieser Problematik mag das hier ziemlich erratisch anmutende Romankapitel aus Doderers „Grenzwald“ genannt sein. Dagegen fügt sich der schöne Essay „Tradition — Nähe und Bestand“, der als Leitmotiv des diesjährigen Bandes gelten will und den Einfluß Adalbert Stifters auf den Südtiroler Franz Turnier untersucht, schon besser ein. Als programmatisches Ziel der Gedichte und Prosastücke, wie es Dieter Wellershofl für sich und eine Gruppe junger Schriftsteller formuliert hat, werden genannt: Realitätsnähe und konkrete Schreibweise, dabei empfindlich für die Störungen, Abweichungen und Umwege. Erfüllung der Aufgabe als Schriftsteller „der Zeit entgegen, der Zeit gemäß“. Vieles ist lesenswert. Hervorgehoben sei: die großartige Laudation von Saint-John Perse „Für Dante“ in der makellosen Übertragung von Friedhelm Kemp; Joachim Kaiser „Mozart-Probleme für unsere Bühne“; Hellmuth Karasek „Beispiele für das Theater 1966“; Hans Egon Holthusen „Deutsch-amerikanische Wechselwirkungen“; Carl Lintert „Das Gemälde, ein Auftritt“ (Über Theatralisches in Bildern). Beachtlich der Herausgeber: Kulturkreis im Bundesverband der deutschen Industrie. Ob nicht Ähnliches auch in der Vereinigung österreichischer Industrieller möglich wäre?

Der Band „Grenzgänge“ umfaßt Essays, Reden und Träume von Ernst Jünger, von denen einige Stücke bereits in einer früheren Liebhaberausgabe enthalten waren. Jünger erweist sich hier wieder stark im Umgang mit Allerkleinstem und Allergrößtem. Seine Vorliebe für Mikroskope und Fernrohre ließ ihn von jeher unter den Schriftstellern jene am meisten schätzen, „denen neben einem scharfen Auge für alles Sichtbare auch ein Instinkt für das Unsichtbare gegeben ist“. Mystisches Eingestimmtsein läßt ihn an der Flügeldecke eines Käfers ewige Ordnungen aufscheinen. Die Windungen an Skarabäen werden ihm zu „Ideogrammen“, die ihm den „Eintritt in eine Welt, in der kein Wesen wie das andere ist“ erschließen. „Sie ist das genaue Gegenbild zur Technik, deren Perfektion im selben Maße zunimmt, in dem Gleichartigkeit des Denkens und der Gegenstände sich über den Planeten ausbreitet. Beide ins Gleichgewicht zu bringen, ist unsere Aufgabe.“ Das sind die Schlußworte in Jüngers Ansprache „Forscher und Liebhaber“ vor den Bayerischen Entomologen. Sie scheint uns neben dem Essay über „Steine“ das Hauptstück des Bandes. So wie das Insekt das Objekt des Entomologen, so ist die Sprache des Autors; „dem Dienst an ihr ist sein Leben geweiht“. Ihr dient auch das Studium von Naturobjekten. Denn für Jünger ist „der Vorgang der Bestimmung sehr ähnlich dem Bemühen des Autors, mit dem er einen Gedanken oder einen Gegenstand umkreist“. Der kleine Band birgt denn auch eine Fülle von eindrucksvollen Beobachtungen und treffenden Formulierungen, wie etwa: „Der Kleingläubige glaubt auch etwas; doch ist er nicht großgläubig. Ob auf den anderen Sternen Leben herrscht, das ist eine Frage von Kleingläubigen. Das Universum lebt“

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