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Die Schwierigkeit, zu sein

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DIE SCHWIERIGKEIT, ZU SEIN. Von Jean Cocteau. Verlag Kurt Desch, Wien-München- Basel. 267 Seiten. Preis 12.60 DM.

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DIE SCHWIERIGKEIT, ZU SEIN. Von Jean Cocteau. Verlag Kurt Desch, Wien-München- Basel. 267 Seiten. Preis 12.60 DM.

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Der Titel dieses Buches (den wir auch, mit gutem Grund, über die folgenden Besprechungen gesetzt haben) stammt vom alten Fontenelle. Als dieser im Sterben lag, fragte ihn sein Arzt: „Wie fühlen Sie sich?“ Und Fontenelle antwortete: „Je sens une difficultė d’ėtre.“ — Man lernt in diesem Buch, das etwa zwei Dutzend Essays vereinigt, einen anderen, einen neuen, ernsten, selbstkritischen Cocteau kennen, der sich unter anderem den Vorwurf macht, er habe „zuviel von den selbstredenden Dingen gesprochen und nicht genug von den anderen, den unsagbaren“: der von der Kunst sagt, sie sei nur dann von Bedeutung, „wenn sie als Projektion einer Moral in Erscheinung tritt“; der bereits 1947 den Tod nahen fühlt — und sich auf ihn vorbereitet. Im Zentrum dieses Bandes stehen die Betrachtungen „Von den Schmerzen“, „Von der Herrschaft der Seele“, „Vom Tod" und „Von der Leichtfertigkeit". — Daneben finden sich lebensprühende Erinnerungen, brillante Porträts von Zeitgenossen und geistvolle Plaudereien aus der Werkstatt des Dichters, des Malers, des Bühnenbildners und des Filmregisseurs Jean Cocteau, der sich mit bewegten Worten darüber beklagt, daß er weder bei seinen Lobrednern noch bei seinen Tadlern die geringste Bemühung entdecken konnte, „das Wahre vom Falschen zu sondern“. Nun, das war in der Tat keine leichte Aufgabe für den Cocteau-Interpreten. Aber während der erregenden Lektüre dieses Buches kommt man dem fesselnden Phänomen Cocteau einen guten Schritt näher.

BRIEFE VON 1902 BIS 1924. Von Franz Kafkj. .S.-Fischer-Verlag. Lizenzausgabe von Schocken Books, New York. 530 Seiten. Preis 28 DM.

Der vorliegende Band beschließt die neunbändige, von Max Brod betreute Gesamtausgabe der Werke Kafkas. In letzter Zeit haben sich kritische Stimmen gegen den Herausgeber erhoben. Aber diese kleinlichen Beckmessereien zeugen doch von schnödem Undank. Dieser von Brod betreute Band allein ist zum Beispiel für den Kafka-Leser und -Forscher von allergrößtem Wert, ein wahrer Schatz, eine Fundgrube neuer Einsichten in Person und Wesen (und damit auch ins Werk) Franz Kafkas. Und wer einmal mit einer Briefedition zu tun hatte, kann ermessen, wieviel Arbeit und Detailkenntnis in dieser Ausgabe steckt. (Nur am Rande: die meisten Briefe Kafkas waren undatiert, Brod gelang es, mehr als 90 Prozent der Schriftstücke einwandfrei chronologisch zu ordnen usw.) Diese Briefe sind, wie die an Milena, für den Menschen Kafka außerordentlich erhellend, und man könnte spaltenlang daraus zitieren. Als Probe nur eine kurze Stelle aus einem an Max Brod gerichteten Brief vom Frühjahr 1919: „Alles, was ich besitze, ist gegen mich gerichtet, was gegen mich gerichtet ist, ist nicht mehr mein Besitz ... Ich bestehe nur aus Spitzen, die in mich hineingehen, will ich mich da wehren und Kraft aufwenden, heißt das nur, die Spitzen besser hineindrücken. Manchmal möchte ich sagen, Gott weiß, wie ich überhaupt noch Schmerzen spüren kann; da ich vor lauter Dringlichkeit, sie mir zu verursachen, gar nicht dazukomme, sie aufzunehmen.“

Die Schwierigkeit, zu sein, war für Kafka nicht nur seelischer, sondern auch körperlicher Natur. (Eine früh aufflammende Tuberkulose der Lungen, später auA des Kehlkopfes. Die letzten acht Seiten des vorliegenden Bandes enthalten Gesprächsaufzeichnungen, da Kafka keinen Laut mehr von sich geben konnte.) Prag, Zürau, Meran, Mathiary, Plana. Berlin, zuletzt das Sanatorium Kierling, waren die Stationen eines lebenslangen Leidensweges. Die wichtigsten Adressaten, zugleich die Kafka am nächsten stehenden Freunde, waren: Max Brod, der allzeit Getreue, Kafkas Vertrauter, Berater und unermüdlicher Helfer, die Klagemauer vor allem, die Kafka mehr brauchte als Ruhm und Geld: dann der Schriftsteller Oskar Baum, der spätere Arzt Robert Klopstock, der Prager Bibliothekar Felix Weltsch und der Verleger Kurt Wolff. von dem man den besten Eindruck bekommt. — Max Brod hat den gehaltvollen Band mit Anmerkungen, einer Zeittafel und einem Register versehen.

BRIEFE UND TAGEBÜCHER. Von Oskar Schlemmer. Herausgegeben von Tut Schlemmer. Langen-Müller, München. 420 Seiten. Preis 24.80 DM.

Der Stuttgarter Oskar Schlemmer, 188 8 geboren und 1943 gestorben, war Meisterschüler von Adolf

Hoelzel, wurde 1920 ans Bauhaus (erst Dessau, dann Weimar) berufen, wirkte drei Jahre als Professor in Breslau und bis 1933 in Berlin. Die hier veröffentlichten Briefe und Tagebuchaufzeichnungen umfassen die Zeit von 1910 bis 1943 und spiegeln eine der interessantesten und dramatischesten Episoden der deutschen Kunstgeschichte: die Bauhauszeit, während welcher Schlemmer Freund und Kollege von Gropius und’ Klee, Mondrian und Feininger, Mareks und Muche war. — Schlemmers Hauptthema war „Der Mensch im Raum“, sein Leben stand unter dem Gesetz von Maß, Zahl und Ordnung, sein strenges Kunstethos wies ihn auf den steinigen und steilen Weg einer spirituellen Kunst, weit weg von der bequemen Straße des breiten Erfolges. Seine Bilder, Plastiken und Wandmalereien haben ebenso ihren festen Platz in der Kunstgeschichte wie seine Bühnendekorationen und Figurinen fürs Ballett, für das er exemplarische Lösungen fand, so in Zusammenarbeit mit Paul Hindemith („Triadisches Ballett“), Oskar Kokoschka und anderen. Bereits vor und während der Bauhauszeit gab es für Schlemmer schwere Selbstbehauptungskämpfe: mit Vorgesetzten Behörden, verständnislosen Kollegen, über den Strang schlagenden Meisterschülern usw. Aber um Sein oder Nichtsein ging es seit dem Jahre 1933: einer der gründlichsten, saubersten, begabtesten Künstler Deutschlands wurde zum Kulturbolschewisten abgestempelt, entlassen und durch Entfernung seiner sämtlichen Bilder aus öffentlichen Sammlungen diffamiert. Schlemmers stiller und verzweifelter Widerstand in den letzten zehn Jahren seines Lebens nötigt die größte Hochachtung ab: er wich nicht einen Finger breit von dem als richtig Erkannten ab und bezahlte seine Unbeugsamkeit mit dem Leben. (Der 1933 noch kräftig und jugendlich wirkende Mann war zehn Jahre später, ohne organisches Leiden, völlig erschöpft.) Für die Erinnerung an diesen bedeutenden Künstler und für die noble Ausstattung des Buches gebührt dem Verlag besondere Anerkennung.

RUDOLF BORCHARDT: PROSA I. Emst-KIett- Verlag, Stuttgart. 538 Seiten. Preis 28.50 DM.

Von Rudolf Borchardt, der 1877 in Königsberg geboren wurde und der in der Emigration starb, stammt einer der letzten Versuche, einen Bildungskosmos für die Deutschen zu schaffen. Hierzu war er durch eine umfassende, philologisch-historische Gelehrsamkeit sowie als Uebersetzer der altgriechischen Hymniker, Vergils und Horaz’, der Troubadours, Dantes und der großen englischen Lyriker des 19. Jahrhunderts wie kaum ein anderer befähigt. Alles, was Borchardt schrieb — Abhandlungen, Reden, Essays —, ist erfüllt von geistiger Leidenschaft und zeigt einen herrischen Willen zur Form und Größe. Seinem strengen Anspruch freilich konnte Seine Zeit nicht genügen, und in einer autobiographischen Skizze aus dem Jahre 1930 schreibt er: „Es ist mir immer gleichgültig gewesen, ob meine Arbeiten augenblicklichen oder allgemeinen

Erfolg hatten, denn sie finden kein Publikum vor.“

Der zum kulturpolitischen Wirken Befähigte und Getriebene lebte seit 1907 im selbstgewählten Exil in Italien, wo er versuchte, „durch rücksichtslose Vereinsamung eine exzentrische Position zu sich selbst zu gewinnen“. — Das war Borchardts „Schwierigkeit, zu sein“. Sein Werk wirkt wie Donner ohne Widerhall. Um so verdienstvoller ist die auf insgesamt acht Bände geplante Ausgabe des Klett-Ver- lages. „Prosa I“ geht auf eine Essaysammlung Borchardts aus dem Jahre 1928 mit dem Titel „Handlungen und Abhandlungen“ zurück, die um einige wichtige Stücke vermehrt wurde. In dieser von der Witwe des Dichters getroffenen Auswahl finden sich die Essays „Ueber den Dichter und das Dichterische“, der „Brief über das Drama“, das „Gespräch über Formen“, mehrere dem Werk Hofmannsthals gewidmete Betrachtungen und Streitschriften sowie die Würdigungen Benedetto Croces, Max Reinhardts und Josef Nadlers. Musterstücke deutschsprachiger Polemik sind „Intermezzo“ und „Georges Siebenter Ring“, beide gegen den „Kreis“ gerichtet.

HUGO VON HOFMANNSTHAL:' DRAMEN IV.

S.-Fischer-Verlag. 512 Seiten. Preis 24 DM.

Mit dem vorliegenden Band ist die von Herbert Steiner betreute, 1946 begonnene und inzwischen auf 14 Bände angewachsene Ausgabe der „Gesammelten Werke“ abgeschlossen. „Dramen IV“ enthält zwei Ballettszenerien, zwei szenische Fragmente (zum.Bergwerk" und zu einem unvollendeten „Chinesischen Trauerspiel“), Handlung und vollständigen Text der für Richard Strauss geschriebenen „Aegyp- tischen Helena“, 17 Seiten Aufzeichnungen zu einem „Xenedoxus“-Drama, das Hofmannsthal für Salzburg plante, und, als Hauptstücke, die beiden Fassungen der Staatstragödie „Der Turm“ (von 1925 und 1927), Hofmannsthals letztem vollendeten Theaterstück. Der Stoff (nach Calderon) hat' ihn seit 1902 beschäftigt. Das eigene Erlebnis von Krieg und Revolution, Gewalt und legitimer Herrschaft, das Sozialproblem, das Caspar-Hauser-Motiv und das des Kinderkönigs (in der ersten Fassung) ließen den „Turm“ — das Material und die Problematik — immer größer werden. Die Bewältigung dieses Chaos, im Leben und in der Dichtung, hat Hofmannsthals letzte Jahre verdüstert. „Der Turm“ ist des Dichters staatspölitisches Vermächtnis und gibt Zeugnis vom „anderen“ Hofmannthal, wie ihn nur wenige — einige Freunde und Vertraute — gekannt haben.

LITERATUR UND LÜGE. Von Karl Kraus.

Kösel-Verlag, München. 355 Seiten. Preis 25 DM.

Nach der Tragödie das Satyrspiel... Unter obigem Titel erschien 1929 eine Sammlung von Pamphleten aus den Jahren 1905 bis 1913. Einige jener älteren Stücke wurden weggelassen und durch spätere, bis 1935 geschriebene, ersetzt. Es geht darin gegen die Presse und den Journalismus, gegen Kollegen und Literarhistoriker, speziell — und besonders ausführlich — gegen Maximilian Harden und Alfred Kerr, Willy Haas und seine „Literarische Welt“. „Die neue Art des Schimpfens“ ist eine dieser Glossen überschrieben, ein Titel, den Karl Kraus dem Literarhistoriker Richard M. Meyer entlehnt, der als ärgste Schimpfer Harden und Kraus anprangert, wofür er nun wieder seinerseits von Karl Kraus gerupft wird — ein wahrer Teufelskreis! Ob das heute noch jemanden interessiert? Und die vielen, vielen Seiten, auf denen Kraus Maximilian Harden ins Deutsche zurückübersetzt, und die Maßregelung eines Karikaturisten, der ihn (Karl Kraus) mit beiden Händen redend darstellte, ihm eine Gurke statt einer Nase malte und einen Zwicker draufsetzte? Der Band ist angefüllt mit aufgeregtem, wortreichem und hemmungslosem Geschimpfe. Manche Leute mögen das. Der Rezensent mag es nicht und ist überdies Karl Kraus gegenüber wegen dessen wiederholter Verunglimpfungen Hofmannsthals voreingenommen Karl Kraus, der selbst so gern analysierte und „hineinleuchtete", wäre selbst das dankbarste Objekt einer gründlichen individualpsychologischen Untersuchung. Aber — Neuausgaben müssen sein (und die des Kösel-Verlags ist wirklich mustergültig); damit die Krausianėr eine Freude haben und damit vielleicht die anderen (vor allem junge Menschen) von einem Mvthos kuriert werden.

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