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Ausländerproblem: Ein Schulversuch weist Wiege

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Wo Schüler verschiedener kultureller Herkunft zusammenkommen, gibt es nicht nur Konflikte und den „Kopftuchstreit”.

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Wo Schüler verschiedener kultureller Herkunft zusammenkommen, gibt es nicht nur Konflikte und den „Kopftuchstreit”.

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Schon das Interview ist ungewöhnlich: kein repräsentierender Direktor, sondern ein runder Tisch mit der Religionslehrerin, dem Geographielehrer, den Deutsch-, Französisch- und BWL-Lehrerinnen, der kroatischen Begleitlehrerin, Öztürk, dem 15jähri-gen Schüler, und Petra, seiner gleichaltrigen Kollegin. Der interkulturelle Schulversuch, der seit zwei Jahren an einer Handelsakademie und Handelsschule des Wiener bfi (Berufsförderungsinstitut der AK und des ÖGB) läuft, lebt vom Geist des „Teams am runden Tisch”. Aus eigener Kraft, von Behörden weitgehend alleingelassen, haben bfi-Lehr-kräfte ein mehrsprachiges Unterrichtskonzept entwickelt, das sie jetzt bereits im zweiten Jahrgang durchziehen: „Im Ministerium hat man gedacht, ein muttersprachlicher Unterricht sei an den weiterführenden Schulen nicht mehr nötig, da er ja in der Pflichtschule stattgefunden hat”, berichtet die Beligionslehrerin Mechtild Lang, „aber wir haben das Problem, daß unser Lehrstoff sehr stark mit speziellen Fachausdrücken befrachtet ist und alltagssprachliches Deutsch dafür einfach nicht reicht.”

„Halbsprachigkeit”, Ausdruck der Kluft zwischen Privatsprache einerseits und Schrift- und Kultursprache anderseits, ist häufig an den zu mehr als 50 Prozent von Schülern nichtdeutscher Muttersprache belegten Lehranstalten des bfi. Der Schulversuch antwortet darauf mit team-tea-ching: in jeweils einer der ersten Klassen von HAS und HAK unterrichten eine Begleitlehrerin (Serbisch/Kroatisch) und ein Begleitlehrer (Türkisch) in den Fächern Betriebswirtschaftslehre, Deutsch, Englisch und Französisch gemeinsam mit österreichischen Kolleg(inn)en. Durch die Verbesserung der Kompetenz in der nicht-deutschen Muttersprache soll fremdsprachigen Schülern das Erlernen der Zweitsprache Deutsch sowie anderer Fremd- und Fachsprachen erleichtert werden.

„Ben istedim/ich wollte/I wan-ted” heißt es etwa in der Grammatik, die das Lehrerteam für Englisch ausgearbeitet hat. Nicht nur Schüler nicht-deutscher Muttersprache profitieren davon: „Die komparative Sprachbetrachtung ist sehr wichtig”, so Gordana Ilic Markovic, Begleitlehrerin für Serbisch/Kroatisch, „wobei es nicht darum geht, daß jeder Schüler alles wörtlich versteht, sondern daß er lernt, wie die Grammatik einer anderen Sprache funktioniert”. Die 15jährige Petra bestätigt: „Es haben nicht nur die ausländischen Schüler etwas davon. Die anderen Klassen sind zwar schon weiter als wir, haben den Stoff aber nicht so gut verstanden. Wir verstehen das, was wir lernen.”

Die Gruppenarbeit, die den Frontalunterricht bei dieser Arbeitsweise notgedrungen ablöst, verstärkt die Intensität des Lernprozesses und hat noch andere Vorteile: „Die Klassengemeinschaft wird dadurch viel besser”, sagt Öztürk. Das Konzept, über gemeinsames Arbeiten und gleichberechtigten Umgang mit den verschiedenen Sprachen und Nationen Integration herbeizuführen, ist in der Klasse von Öztürk und Petra voll aufgegangen. „Am Anfang hat es schon Spannungen zwischen In- und Ausländern gegeben”, erzählt Petra, „aber das haben wir gründlich ausdiskutiert. Jetzt fühle ich mich irrsinnig wohl in der Klasse.”

„Toleranz und Weltoffenheit sind ein wichtiges Ziel bei dem Ganzen”, meint der Geographielehrer Andreas Breinbauer. In Fächer übergreifenden Projekten, wie derzeit etwa zum Thema Migration, versuchen die Lehrer, das Wissen über die eigene und fremde Kulturen zu vertiefen. Breinbauer: „Ursprünglich auf die Behebung sprachlicher Mängel ausgerichtet, geht es immer mehr um die Vermittlung einer kosmopolitischen Sichtweise der Dinge.”

Die Erfolge geben den Bemühungen des bfi-Teams recht. Nach dem ersten Jahrgang 1993/94 lag in den Schulversuchsklassen die Austrittsquote bei null, in den Parallelklassen bei bis zu 26 Prozent. Ausnahmslos alle Schüler wurden beurteilt, in den Parallelklassen bis zu 16 Prozent nicht. 54 Prozent der Teilnehmer am HAS-Schulversuch gelang der Aufstieg, dagegen nur 32 bis 39 Prozent der Schüler in den „normalen” HAS-Klassen. In der HÄK lag die Aufstiegsquote sogar bei 81 Prozent gegenüber 29 bis 70 Prozent in den Parallelklassen.

„Dieses eklatante Ergebnis haben wir erst in der Schlußkonferenz realisiert”, sagt Lang. Konkret faßbar machten es schließlich die Zahlen von Gero Fischer, Dozent am Institut für Slawistik in Wien und wissenschaftlicher Betreuer des bfi-Pro-jekts. „Der laufende Schulversuch ist wegweisend”, so Fischer, „er basiert auf Erfahrungswerten bilingualer Konzepte, die in einigen Grundschulen schon seit Jahren realisiert werden und bestätigt, wie adäquat der methodische Zugang von team-tea-ching und Gruppenarbeit ist”.

Noch ist das bfi einsamer Pionier, was interkulturellen Unterricht an berufsbildenden Schulen betrifft. Das Unterrichtsministerium hat den Versuch auf vier Jahre genehmigt, mehr war nicht zu holen. Lang: „Im Grunde genommen sind wir auf sehr mitleidige Ohren gestoßen. Man hat uns als beseelte Charismatiker angesehen, die nur mehr Arbeit und Geld verlangen. Die ganz große Unterstützung der Schulbehörde wurde uns nicht zuteil.”

Fischer bezeichnet es schlicht als „Selbstausbeutung”, was die Lehrer am bfi betreiben. Jede Stunde, die im Team abgehalten wird, bedarf einer intensiven Einzelvorbereitung, zwei Stunden die Woche unterziehen sich die Lehrer einer Supervisi-on. „Auf die Dauer kann das den Kollegen nicht zugemutet werden”, so Fischer. Neben einer gerechten Entlohnung fordert er den Ausbau der Lehrerfortbildung im Blick auf das team-teaching und eine funktionierende Einbindung muttersprachlicher Lehrer in die Teams.

Die fehlende Unterstützung von oben ließ Lehrer verschiedener berufsbildender Schulen in Wien zur Selbsthilfe greifen. In der „Arbeitsgemeinschaft Interkulturelles Lernen” treffen einander jene, die „sich 'icht mit dem Jammern über ,das Ausländerproblem' zufriedengeben, sondern die multikulturelle Zusammensetzung der Klassen als herausfordernde Aufgabe begreifen”, erklärt Lotte Rieder, Leiterin der AG. Erfahrungen werden ausgetauscht, Fachliteratur und Unterrichtsmaterialien. Vor allem kämpft die AG „um Anerkennung und Unterstützung unserer Remühungen, die wir oft gegen Verständnislosigkeit und Vorurteile durchsetzen müssen”.

Seitens des Unterrichtsministeriums ist keine Änderung der Situation in Sicht. Der zuständige Ministerialrat, Gottfried Bernhard, auf die Frage, was im Hinblick auf interkulturellen Unterricht an berufsbildenden Schulen geplant sei: „Das steht derzeit nicht zur Debatte.”

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