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Planierung der Zeilen?

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Unsere technische Gegenwart hat ein mehrfaches Antlitz: Sie ist nicht nur die Epoche der brüllenden Panzer und Planierungs- masohinen, sie ist auch die des Elektronenmikroskops, das die Sehschärfe bis zum Höchstpunkt steigert, dafür aber das Gesichtsfeld auf das Minimum einengt. Sie ist ferner die Epoche der Ein-, Ab- und Umschaltungen, die Epoche hektischer Schaltdelirien — auch auf Gebieten, für die harmonisches, nur in Jahrhunderten meßbares Fließen die einzige adäquate Form der Veränderung ist, wie etwa für das Schriftkleid einer Sprache.

Das Mikroskop als Symbol: Da werden die durch das vermeintlich überflüssige h hervorgerufenen „seelischen Qualen" des Volksschul- repetenten Huber beim Schreiben des Wörtchens „sehr" so vergrößert und dramatisiert, daß man geneigt wäre, derenthalben einen Bestandteil unserer Kultur nach den angeblichen Bedürfnissen Hubers auszurichten und mit der Vehemenz einer Planierraupe einzuebnen.

Das Kuriose an jenem einseitigen, mikroskopartigen Psyohologismus unserer Zeit aber ist die Tatsache, daß dabei viel größere, nicht minder psychologische Zusammenhänge und Probleme einfach ignoriert werden.

Der Glaube an die Notwendigkeit einer Rechtschreibreform beruht auf mehreren grundlegenden Irrtümern, die im nachstehenden kurz umrissen werden sollen. Ganz zu Unrecht und sozusagen für nichts und wieder nichts müßten also unsere Klassiker durch eine wahrhaft orwellianische „rewrite section" gehen, wegen eines Nichts würden kommende Schulkindergenerationen ironisch-lächelnd vor feierlich-gotischen, „komisch geschriebenen" Worten von Mahnmalen stehen, für nichts und wieder nichts würden wir den Herrn Oberregierungsrat’ samt seinem Büro auf die Schulbank zweoks „Unterweisung in der neuen amtlichen Rechtschreibung" setzen, um Volksschüler Hubers Schulbankzeit abzukürzen. Für nichts: denn Huber empfände nämlich durch die neue Ortographie gar keine Erleichterung in seinem Sprachunterricht!

Niemandem kommt wohl die Tatsache der ganzheitlichen Aufnahme des Schriftbildes durch den Lernenden so zum Bewußtsein wie dem Fremdsprachenlehrer. Wenn da eine Klasse Zehn- und Elfjähriger in schlagartiges Gelächter ausbricht, wenn einer ihrer Kameraden an der Tafel ein englisches Wort auch nur geringfügig falsch schreibt, so ist dies ein ebenso schlagender Beweis, wie sehr das Aufnehmen des Schriftbildes gleichzeitig mit der Erlernung des Wortes erfolgt ist: Je kindlicher das Alter, um so inniger verknüpft erscheint Begriff und optische Wortganzheit; irgendein Buchstabe an ungewohntem Ort — und das Ganze erscheint „urkomisch"! Ein Nichtken- nen einer Schreibung ist — richtige Lehrmethode vorausgesetzt — identisch mit einem Nichtkennen des Wortes oder seiner grammatischen Beziehungsbedeutung. Das Erfassen des hinter jedem Wort stehenden Begriffes und dessen Teilfunktion im Satzganzen ist die eigentliche schwierige Arbeit jeder sprachlichen Erziehung. Welche „Qualen in empfindsamen Kinderseelen" werden denn dann erst durch die komplexen und eigenwilligen grammatischen Formen- und Beziehungssohemata selber verursacht, wenn ihr bloßes optisches Kleid didaktisch schon so entsetzlich sein soll? Das individuelle Schriftkleid eines Wortes ist aber schwierigkeitsmäßig jener Begriffs- und Schemataerfassung nicht nur unendlich untergeordnet, sondern, als Abglanz der Begriffs-

individuation, sogar eine Erleichterung im sprachlichen Erfassungsprozeß.

Der andere große Irrtum, auf dem die Idee einer Rechtschreibreform basiert, ist die Auffassung, daß, was akustisch nicht differenziert ist, es auch schriftlich nicht zu sein braucht. Die sprachpsychologische Situation ist aber beim Sprechen normalerweise eine ganz andere als bei schriftlichem Ausdruck. Schriftliche Sprachfixierung war von Anfang an keineswegs bloß „phonetisches Abbild von Gesprochenem". Höherer geistiger und seelischer Sprachausdruck war es, der seit je die wahre Bindung mit dem Schriftkleid der Sprache hielt und dieses nach seinem Ethos und seinen Bedürfnissen formte — nicht flüchtiger Alltagsausdruck. Höherer Ausdruck ist aber gezwungen, Begriffe (und daher Worte) oft bis an den Rand ihres Inhalts und ihrer Beziehungsfähigkeit auszuschöpfen, ihnen größere Fixierung, Differenzierung und besonders in ästhetischem Bereich — Monumentali- sierung zu verleihen, die alle das Wort über seinen akustischen Alltagsnennwert hinaus- leben. Deshalb gab beispielsweise die so fein durchgegliederte französische Sprache ihre (akustisch doch gegenstandslosen) Uefoerein- stimmungsregeln nicht auf, deshalb läßt sie ferner ein ,,aimer" nicht mit „aimé" und „donne", „donnes" und „donnent" nicht zusammenfallen, deshalb verzichtet auch der gewiß nicht übersentimentale Engländer oder Amerikaner nicht auf jedes Wort als Einzelindividualität herausstellende Orthographie. Und das Deutsche — die Sprache, in der bisher profunder Gedanken- und Gefühlsausdruck auch breitenmäßig den größten Raum einnahm (worin wohl auch die psychologische Wurzel für die lange Wahrung der gotischen Schrift zu suchen ist) — könnte seine Nomina- differenzierong (von der anderen Gleichmacherei gar nicht zu reden) nur unter spürbarem Verlust auf dem Gebiet der Ausdrucksfähigkeit aufgeben. Jede Sprache hat eben ihre schriftbildlichen Stützen dort entwickelt, wo sie sie am meisten benötigt. Argumente wie „das Ideal für den Sprachwissenschaftler ist die Lautschrift" erscheinen mir daher in diesem Zusammenhang ebenso gegenstandslos, wie es etwa der Satz „das Ideal für den Reklamefachmann ist die Leuchtschrift" hier wäre.

Abschließend noch ein Wort über das „Leichtermachen" einer Sprache. Man könnte drei Arbeitsfelder beim Erwerben einer Sprache miteinander in Relation setzen: Schriftkleid, Grammatik und schließlich das über jede „Regel" sich erhebende unendliche Feld der Zuordnung zwischen Gedankeninhalt und Sprachsymbol (Wort) — landläufig etwa Stilistik genannt. Die drei Stufen verhalten sich schwierigkeitsmäßig zueinander etwa wie das Anlegen einer Touristenkleidung, der Anmarschweg zum Hochgebirge und schließlich eine schwierige Klettertour dort- selbst, die erst so richtig den Einsatz der gesamten Persönlichkeit erfordert. Hält man der vernachlässigbaren Größe der „Schwierigkeit" eines Schriftkleides den Wert ihres ausdruckstützenden und monumentalisierenden Charakters entgegen, der nicht ein „Narrenturm", sondern Produkt jahrhundertelanger formender Einwirkung höheren Gedanken- und Seelenausdrucks auf das optische Wiedergabemedium ist, dann ist die Frage nach einer spürbaren Aenderung solchen Schriftkleides geradezu mathematisch klar mit einem Nein zu beantworten.

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