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Mit den Augen des Kindes

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IM „JAHRHUNDERT DES KINDES”, wie unser Zeitalter manchmal mit seinem schönsten Titel genannt wird, nimmt man viele Aeuße- rungen des Kindes ernst, die früher unbeachtet blieben. Ist es jedoch nicht übertrieben, von Kinderkunst zu sprechen? Ist das Wort Kunst nicht ein zu hoher Begriff, um auf die Produkte des Werkens der Kleinen angewendet zu werden? Nein, wenn Kunst Verdichtung, wenn sie schöpferische Weltbewältigung bedeutet.

Das Kind, ob es zeichnet, malt oder formt, offenbart eine aktive Weltfreude, wie sie nur begnadeten Naturen bis in ihr reifes Alter erhalten bleibt. Beim Durchschnittsmenschen verlieren sich zumeist jene Eigenschaften, die die kindliche Schöpferkraft ausmachen: das Zutrauen zu den Dingen und die Fähigkeit, die Vielfalt des Lebendigen in vereinfachte und doch umfassende Schemata zu verwandeln.

WAS ENTZÜCKT UNS an den Zeichnungen und Malereien der Kinder? Vielleicht ist es der ungeübte Ausdruck fern jeder Perfektion, der uns anspricht. Oder die unbedingte Wahrhaftigkeit. Sie drückt sich in der ,|de tität von Wollen und Persönlichkeit der kleinen Künstler aus. Allein über die Farbwahl ließen sich mannigfache Betrachtungen schreiben, die alle in der Feststellung münden müßten: hier sind ungetrübte Instinkte am Werk, das unbeeinflußte Kind trägt ein sicheres Gefühl für die Farbharmonie in sich, wie es nur große Künstler in der Reife ihres Lebens erreichen.

Wir Erwachsene haben verloren, was dem Kinde selbstverständlich ist: die Empfindung für die Einheit der Schöpfung. Die Blume, das Flugzeug, die Schlange, der Mensch, das Haus, der Mond — all dies ist im kindlichen Bildwerk friedfertig vereint, es liegt nicht wie im Bewußtsein des durchschnittlichen Erwachsenen im Krieg miteinander. Das Kind erfaßt die Dinge und Erscheinungen in ihrer Letztheit, es analysiert nicht. Es nimmt die Dinge an. wie sie sind. Das Kind ist arglos, man hat ihm noch nicht beigebracht, dem, der die Welt erschuf, zu mißtrauen.

DIE ARGLOSIGKEIT mit Dummheit zu verwechseln, hieße die Botschaft des Kindes an uns mißverstehen. Das Kind ruht, normale Umstände vorausgesetzt, sicher und klug in sich und seiner Umgebung. Schritt um Schritt, staunend und ordnend, erobert es sich Welt. Wenn es zeichnet und malt, strebt es nicht sosehr darnach, wiederzugeben (= wieder zu geben), was es schon gibt, als vielmehr, aus dem eigenen Erfahrungsschatz schöpfend, aus sich heraus zu schaffen, was es noch nie gab: eben diese Zeichnung oder diese Malerei, ein völlig Neues, eine Schöpfung, hervorgebracht gegen den Widerstand von Papier, Stift und Pinsel.

Vom Kinde gelernt, in die Kinderwelt hinein befreit haben sich, ganz oder doch für weite Abschnitte ihres Werkes, einige der bedeutendsten Künstler der neueren Zeit. Wir denken an Paul Klee, an Joan Mirö, an Chagall, auch an Picasso. Nicht in Aeußerlichkeiten erschöpft sich dieses Hinabtauchen in die Tiefe der Kinderseele, es geht bis auf den Grund, dorthin, wo eine nur naiv erlebbare magische Dimension sich öffnet.

IN DER MAGISCHEN DIMENSION entfällt die Subjekt-Objekt-Spaltung, aus der sich die Spannung und Dynamik der Hochkulturen herleitet. Das Ich, die Umwelt erfassend, Dinge erschaffend, schaut sich ineins mit der Umwelt.

mit der eigenen Hervorbringung, in einer inneren Abhängigkeit, die der moderne Erwachsene nur noch in den Spuren banalen Aberglaubens kennt. Hier gibt es kein Symbol, hier hat weder eine Sache noch ein Geschehen Be-Deutung, hier steht nichts für etwas anderes. Jedes Ding, jeder Vorgang ist dadurch, daß er sein Sein nicht mit einem Netzwerk vielschichtiger Be- Deutungen teilt, ein einmaliges Ganzes.

Lediglich in einem Reich, das sich unserem Willen und zu einem großen Teil auch unserem Bewußtsein entzieht, treffen uns dieselben Phänomene: in der Welt des Traums. Träumend wissen wir, daß der Traum unsere Hervorbringung, unser Traum ist, doch wissen wir zugleich, daß wir ihn nicht ändern können, er rollt ab, unabänderlich, mit schicksalhafter Gewalt. Die Kausalität unseres wachen Verstandeslebens ist aufgehoben, an ihrer Stelle stehen dinghafte, unentrinnbare Verknüpfungen.

DAS KIND IST KEIN CLOWN, der uns zum Lachen bringen will. Wenn wir über kindliche Spiele oder Bildwerke lachen, sind wir selbst schuld daran. Dann betrügen wir uns um das Verstehen des tiefen und absoluten Ernstes, der das Kindsein erfüllt. Weder die Sentimentalität noch das Idyllische und schon gar nicht die Eitelkeit haben, sofern sie nicht künstlich hineingetragen sind, in der Kinderwelt Platz. Der stille oder laute, lachende Jubel des Kindes über eine neuentdeckte Form oder Farbe ist Weltfreude und hat nichts mit dem Lachen eines Erwachsenen angesichts eines Witzes zu tun. Dem Kinde ermangelt das Kausalitätsdenken des Erwachsenen und in dessen Gefolge die iragis Jie Boshaftigkeit, aus der allein Pointen entspringen.

Die Sprache machte diesen Sachverhalt transparent, indem sie das Wort „Kindheitsparadies” bildete. Das Kind erobert sich Welt, doch es denkt nicht vielschichtig, es hat Kenntnis, aber keine Erkenntnis. Darum ist die Kinderwelt sündlos. Hier wurzelt vielleicht die tiefste Ursache der glückhaften Verzauberung, die uns vor den Werken der Kleinen zuteil wird. Und hier vermögen wir, wenn sich unsere Augen auftun, den Adel kindlichen Wesens zu erblicken.

DIE NATUR DES KINDES entwickelt den Darstellungstrieb in Phasen, deren Charakteristika wir oben teilweise vorweggenommen haben. Schon im zweiten Lebensjahr greift das

Kind zu Bleistift oder Griffel, genau so, wie es mit Klötzchen oder Steinen spielt. Vorerst sind die entstehenden Kritzeleien oder Kleckse reine Zufallsergebnisse und entbehren jedes gestalterischen Moments. Sobald dem Kleinkind der Zusammenhang zwischen Stift oder Pinsel und den entstehenden Zeichen klar wird, übt es diesen Vorgang aus Funktionslust aus. Noch hat das Kritzeln oder Pinseln keine andere Bedeutung als etwa das Werfen von Steinen in einen Bach. Doch so wie das lallende Klein kind allmählich erfaßt, daß es mit den von ihm hervorgebrachten Lauten einen Sinn verbinden kann, geht es auch hier. Im dritten bis vierten Lebensjahr entstehen die ersten sinnhaften Zeichnungen.

Jetzt benennt das Kind erstmals seine Produkte, sobald sie fertig vorliegen. Bald benennt es sie, während es noch zeichnet, und schließlich weiß es, bevor es zu zeichnen beginnt, was es zu schaffen beabsichtigt. Das Kneten von Ton oder Plastilin und das Bauen mit Klötzchen durchläuft analoge Stadien, aufschlußreiche Daten liefernd über den Stand der personalen, geistigen und seelischen Entwicklung.

DIE IKONOGRAPHIE des Kindes, das jetzt ins fünfte Lebensjahr tritt, strebt keineswegs nach Porträtähnlichkeit mit dem erfaßten

Gegenstand, sondern kommt, äußerst sparsam in den Mitteln, mit schematischen Kürzeln aus. Alles übrige wird vom Kinde hinzugewußt. Auch darin zeigt sich die Parallele mit dem Traumerleben: die Darstellungsmittel des Traumes sind (jeder kann es an den eigenen Träumen nachprüfen) so karg und andeutungshaft wie sonst nur in der Kunst der Primitiven und in Bezirken der modernen Kunst. Unser Kind zeichnet nicht „nach der Natur”, sondern ausschließlich nach dem Gedächtnis, solange man es nicht törichterweise dazu zwingt, Vorlagen zu kopieren.

Jeder Zwang, nach der Natur oder nach Vorlagen zu zeichnen, entfremdet das Kind seiner eigenen Persönlichkeit mit all ihrem unverwechselbaren, originalen Reichtum, drängt das Schwergewicht der Weltbewältigung von innen nach außen. Denn die schematisch verdichtete Darstellungsweise kommt aus der natürlichen geistigen Entwicklung. Sie entspricht dem Vorgang, durch den das Kind begreift, daß es außer den einzelnen konkreten Gegenständen und Wesen, die es in seinen ersten Lebensjahren sah und erfaßte, eine Vielzahl solcher Gegenstände und Wesen gibt. Die Sprachentwicklung, zeitlich etwas früher liegend, verläuft analog. Was in der Sprache zum Begriff wird, bildet sich im Darstellerischen zum Schema aus.

DIE ‘SEELENSTRUKTUR des Kindes findet., ihren jeweiligen, -getreuen Ausdruck in seiner, ‘ Zeichenkunst. Schichttheoretisch gesehen, erweitert sich im fünfjährigen Kinde vor allem die endothyme Schicht um zahlreiche Formen gerichteter Gefühle, wie Aufgabebewußtsein, Werkfreude, Mitgefühl. In der personellen Schicht bilden sich Ordnungsprinzipien und Willenshaltungen aus. Das Subjekt zeigt Ansätze, sich dem Objektiven zu unterordnen. Das Trotzalter mit seinem heftig aufgebrochenen, neugewonnenen Selbstgefühl, das den Eltern so viel zu schaffen machte, ist glücklich bewältigt. Die an das Selbst gebundenen Strebungen weichen zunehmend dem Gesellungsstreben, aus bloß triebhaften Augenblicksbindungen erwachsen Dauerbindungen an das Objektive. Neben die frühkindliche Spielhaltung tritt zum erstenmal die Arbeitshaltung. In den Spielen bilden sich feste, objektive Regeln aus. denen das Kind sich willig unterwirft. Das Zeichnen und Malen wird als Aufgabe empfunden, deren Bewältigung Befriedigung auslöst.

Jetzt kommt das sechste Lebensjahr heran, das Datum des Schuleintrittes naht. Auf die kindliche Zeichenkunst bezogen, muß man nur zu häufig sagen: der Schuleintritt bricht herein. Immer noch gibt es Erzieher, die sich nicht damit begnügen wollen, Geburtshelfer der Kinderkunst zu sein, sondern gewaltsam ihre Vorstellungen auf das Kind übertragen. In dieser Zeit stirbt in vielen Kindern die Darstellungslust, sie empfinden ihre Werke, am Erwachsenenmaß gemessen, als mißlungen und verlieren den Mut. Was bei solchen Kindern entsteht, verdient nicht mehr die Bezeichnung Kinderkunst. Das Kind wird zum Werkzeug fremden Willens Zum erstenmal schafft es Kitsch.

DIE BOTSCHAFT DES KINDES aber, die es auszustrahlen vermag, solange wir es nicht belästigen oder zwingen, soll uns nicht verlorengehen. Sie erzählt uns im Märchenton von der einen Welt, in der wir einst alle zu Hause waren wie in einem Nest. In ihr ist der Stern der Bruder des Schmetterlings und der böse Zauberer und die gute Fee sind unlösbar miteinander verbunden. In ihr erhebt sich der Mensch über alle Wesen, doch im franziskanischen Sinne und nicht als ihr herrischer Diktator. Wenn wir aus dem Kindsein und der Kinderzeichnung herauszulesen verstehen, welche Macht die Dinge der Welt über den Menschen haben, schlägt uns eine Gnadenstunde, die unseren Hochmut dämpft.

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