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Über die Torheit des Auswendiglernens

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In den USA wurde vor einiger Zeit der bezeichnende Vorschlag laut, in den Schulen künftig weniger auf das erlernte Wissen als auf die Fähigkeit Wert zu legen, sich eines Wissens bedienen zu können, so daß beispielsweise dem Schüler bei der Prüfung alle Arbeitsbehelfe, Nachschlagebücher usw. zur Verfügung stehen sollten. Ein praktischer Vorschlag. Aus dem Land der Praxis kommend, scheint er den Bedürfnissen des praktischen Lebens weitgehend Rechnung zu tragen. Wozu sich weiterhin mit dem Ballast eines täglich größer werdenden Wissens beladen, wenn dieses Wissen ohnehin in Büchern, Bibliotheken, Sammlungen und Archiven vorhanden und für jedermann zugänglich ist, der sich seiner zu bedienen versteht. Welch ein Unsinn, sich den Kopf mit Dingen vollzustopfen, die man möglicherweise nie im Leben wird brauchen können. So denken viele Menschen und mehr noch handeln danach, wenn sie erst dem lästigen Zwang der Schule entronnen sind. Die meisten begnügen sich mit dem Wissen, das sie Tag für Tag in ihrem' Beruf und in ihrem Privatleben brauchen, im übrigen verlangt das heutige Bildungsideal nicht mehr als eine gewisse „Orientiertheit“, so, daß man eben mitreden kann und nicht jeden Unsinn glauben muß. Auf die Erlangung dieser „Orientiertheit“ beschränkt sich denn auch — wahrscheinlich notgedrungen durch die Uberfülle des Dargebotenen — der zweifellos unvermindert vorhandene Wissensdurst. Bücher und Zeitschriften werden in immer größerer Zahl und immer oberflächlicher gelesen, nein, nicht gelesen, denn lesen heißt gleichzeitig sammeln und aufbewahren, sondern überflogen. Wohl stößt man dabei oft auf Tatsachen, Gedanken, Sätze und Formulierungen, bei denen man genau spürt, daß man sie sich eigentlich merken müsse. Allein die geheime Aufforderung des geistigen Gewissens wird geschickt pariert, indem man die Bücher und Zeitschriften eben nicht wegwirft, sondern sie wohlgeordnet und griffbereit auf die dazu bestimmten Regale legt, und sich mit dem Bewußtsein beruhigt, das dort aufgespeicherte Wissen stets zur Verfügung zu haben.

Das alte Sprichwort von dem Weisen, der all sein Gut mit sich trage, gilt nach wie vor. Zu diesem Gut gehören nicht Bücher und Bibliotheken, nichts Gedrucktes und Geschriebenes. Nichts gegen das Gedruckte! Es ist da, um Wissen, Einsichten, Erlebnisse, Erfahrungen — dazu gehört natürlich auch das Schöne — zu vermitteln, nicht aber um als sorgfältig gehütete Konserve der Verpflichtung zu entheben, es sich auch anzueignen. Was nützt es, daß die Zahl der Konserven täglich wächst, wenn wir wie die Geizhälse neben vollen Vorratskammern verhungern, was hilft es, daß die Weisheit an Umfang und Tiefe ständig zunimmt, wenn der Weisen immer weniger werden? Ein stolzerregender Anblick, ruht kostbarstes Geistesgut auf den Nebengeleisen des Lebens wie abgestellte Eisenbahnwagen, während das Leben größte Not an Wagen hat.

Alle Welt klagt heute über zunehmende Vergeßlichkeit. Im Kriege versuchte man sie der unzulänglichen Ernährung anzulasten. Mit solchen Ausreden können wir uns heute nicht mehr trösten. Um so bedenklicher die Erscheinung, denn Vergeßlichkeit ist nicht nur eine private Schwäche, sie kann unter Umständen ejn öffentliches Laster sein. Für die Vergeßlichkeit gibt es eine Reihe plausibler Erklärungen, zum Beispiel den Mangel an Aufmerksamkeit, an Konzentration, für den eine geschäftige Zerstreuungsindustrie bestens sorgt. Aber auch die schönsten Erklärungen schließen nicht den Gedanken aus, daß mit der Absicht und der Notwendigkeit, sich etwas zu merken, auch die Fähigkeit dazu abgenommen hat. Das Gedächtnis ist schwach geworden, oder vielmehr nicht gut, aber das Gedächtnis ist etwas, das sehr wohl geübt und gestärkt werden kann. Jeder bessere Schachspieler weiß das, und er beginnt damit, daß er die Partien Zug für Zug auswendig lernt, bis er schließlich imstande ist, mehrere Partien gleichzeitig blind zu spielen und einzelne Spiele, die er vielleicht vor Jahren gespielt oder nur gesehen hat, geläufig aus dem Kopf zu wiederholen.

Soweit die Schachspieler. Was aber geschieht sonst, um das Gedächtnis zu stärken, ohne das, im Leben wie im Schachspiel, jeder ein Stümper, ein Anfänger bleiben muß? Nichts, oder beinahe nichts, jedenfalls weit weniger als früher. Schon in der Kindheit fängt es an. Den modernen Erziehern erscheint das sture Auswendiglernen als läppisch. Verstehen heißt die Devise, nicht lernen; was man verstanden hat, ist von bleibendem Wert, was man auswendig gelernt hat, vergißt man ohnedies früher oder später. Mag sein, aber es wird dabei übersehen, daß das Auswendiglernen so ziemlich das einzige Mittel ist, das Gedächtnis durch Übung zu stärken, und ohne Gedächtnis kein Denken und kein Verstehen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß die vielbeklagte Vergeßlichkeit von den modernen Erziehungsmethoden herrührt, die sich später auszuwirken beginnen. Dann freilich fehlt es meist an Gelegenheit, das Versäumte nachzuholen.

Von fast allen bedeutenden Männern ist glaubhaft überliefert, daß sie außerordentlich viel auswendig wußten, das heißt also auswendig gelernt hatten, denn auch ihnen gab es nicht der Herr im Schlafe. Als Goethe Wielands „Mus-arion“ in die Hand bekam, las er die Dichtung nicht und stellte sie in die Bibliothek, nein, er lernte nach seinem eigenen Zeugnis das immerhin an die 80 Seiten lange Gedicht Wort für Wort auswendig. Er tat es vermutlich nicht, um sein Gedächtnis zu üben, sondern um Wielands Gedicht wirklich zu besitzen. Man darf annehmen, daß eine solche zwangsläufig mit einer Stärkung des Gedächtnisses einhergehende systematische Aneignung geistigen Gutes durch Auswendiglernen bei ihm und anderen nicht unwesentlich beteiligt waren an der Fähigkeit, sich schön und treffend auszudrücken, an der Klarheit des Denkens und an der Lebensweisheit überhaupt. Stefan Zweig berichtet von der Begegnung mit einem Matrosen, der, des Lesens und Schreibens unkundig, ihn bat, einlangende Briefe vorzulesen, ganz langsam und deutlich. Der Dichter schildert sehr schön, wie er im Gesicht des Mannes ablesen konnte, daß sich jedes Wort seinem Gedächtnis unauslöschlich einprägte. Für den Analphabeten war Geschriebenes oder Gedrucktes wertlos, er mußte sich, was für ihn wichtig war, merken, und weil er es mußte, konnte er es auch, so daß ihm der Wortlaut der Briefe noch nach Wochen geläufig war. Man muß dabei an gewisse alte Leute denken, die — ein jeder kennt sie — eigene und fremde Erlebnisse und, was sie gehört und gelesen haben, mit einer ans Wunderbare grenzenden Deutlichkeit in ihrem Gedächtnis und jederzeit bereit haben und außerdem eine Reihe von vielleicht noch aus der Zeit der Urahnen stammenden Sprüchen und Lebensweisheiten, die den Besitzer mit einer Sicherheit durchs Leben leiten, ihn mit allen Widrigkeiten gefaßt und in einer glücklichen Weise fertig werden lassen.

Auch an die Gepflogenheit unserer Urahnen muß man denken, Erfahrungen und Einsichten in die Form leicht merkbarer und praktisch unvergeßlicher Sprüche zu bringen. Auswendig gelernt und immer wieder ausgesprochen, wurden sie ein echter geistiger Besitz des Volkes. Was ursprünglich, als die wenigsten lesen und schreiben konnten, als es noch keinen Buchdruck gab und keine bequeme Möglichkeit, das Wissen als tote Massenkonserve zu verbreiten, ein Gebot der Notwendigkeit war, das hat sich in der Dichtung wenigstens bis in unsere Tage erhalten, freilich nicht ohne daß es sich seinem ursprünglichen Zweck mehr und mehr entfremdet hätte. Der lange Weg des Verses vom reinen Merkmittel über die verschiedensten Zwischenstufen zum rein künstlerischen Ausdrucks-mittel ist im großen und ganzen sicherlich den Linien der allgemeinen geistigen Entwicklung gefolgt, genau so, wie der eingangs erwähnte Vorschlag des amerikanischen Pädagogen nur eine praktische Konsequenz aus der allgemeinen Einstellung der Menschen ist. Trotzdem möchte ich es bezweifeln, ob man der Jugend wirklich einen Gefallen erweist, wenn man sie mehr und mehr von dem lästigen Zwang des Auswendiglernens befreit. Vielleicht bereut sie, wenn es zu spät ist, bitter, daß sie nicht rechtzeitig systematisch zur Stärkung des Gedächtnisses angehalten worden ist. Freilich hat auch dieses wie jedes Ding zwei Seiten. Wer könnte mit Sicherheit sagen, ob ein gutes Gedächtnis heute mehr Segen oder mehr Fluch ist? Wahrscheinlich ist es beides zugleich, wie ja auch das Vergessen mitunter höchst ärgerlich, bisweilen aber auch ein großes Glück ist.

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