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Bucher in jungen Handen

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Der totale Staat des Nationalsozialismus besaß eine Eigenschaft, die ihm nicht abgesprochen werden konnte, er war in seinen Auswirkungen von eiserner Konsequenz. Nicht nur, daß er ein großes Volk in ein Heer uniformierter Soldaten verwandelte, seine friedlichen Städte und versonnenen Dörfer allmählich mit seinem Ungeist, sondern auch die gesamten Bereiche der Jugenderziehung durchdrang. Selbst die mathematischen Lehrbücher strotzten von „ausgerichteten“ Textbeispielen, die sich zwischen einfachen Schußberechnungen und größeren taktischen Geländeaufgaben bewegten. Ja sogar die stenographischen Zeichen sprachen von der wehrhaften Bedeutung Großdeutschlands. Ganz zu schweigen von den Stoffsammlungen für Geschichte und Literaturgeschichte, die ja als ausgesprochene „Weltanschauungsfächer“ galten und in denen man es verstand — Sei übrigens oft bestechender Ausstattung —, den nationalsozialistischen Geist für das gesamte Denken wirksam zu machen. Selbstverständlich erfuhren auch die Schüler- und Jugendbüchereien eine entsprechende Gestaltung, und wer Gelegenheit hatte, nach 1945 eine solche Bibliothek nach den Forderungen der inneren Erneuerung Österreichs' zu überprüfen, konnte, sich einen Begriff machen von der inneren Konsequenz und Geschlossenheit eines Systems, das vielleicht in dieser Starre von vornherein den Todeskeim in sich trug.

Diese kurze Rückschau soll nur vergegenwärtigen, aus welchen geistigen Bindungen die langsam emporreifende Jugend erwachen, sich herauslösen mußte, um Blick und Sinn freizubekommen für die ewigen Werte der Weltliteratur. Wie dies schon in dem Aufsatz „Schule und Berufswahl“ * ausgesprochen wurde, bedarf die Leitung dieser Jugend aus dem Übergang besonderen Taktes und eines tiefen Verständnisses für die inneren Nöte dieser Wandlung. Andererseits ist eines bemerkenswert: Der Ver-

* „Furche“, 3. Jahrg., Nn 28, vom 19. Juli 1947'.' fasser hatte Gelegenheit, während der Säuberung einer Schülerbücherei einige freiwillige Helfer bei ihrem Tun zu beobachten. Diese ehemaligen Rotten- und Fähnleinführer schüttelten selbst die Köpfe, als sie die zu entfernenden Bücher einmal so in einer geschlossenen Phalanx vor sich aufgestapelt sahen, nicht nur die „mittelbaren“ Tendenzwerke der Beumelburg, Zöberlein, Itzinger usw., sondern all die knalligen Titel, wie „Panzerjäger voran!“, „Wir eroberten Narvik“, „In Stahlgewittern“, „Vom Schiffsjungen zum Fallschirmjäger-general“ usw., usw. — Es kam ihnen ganz von selbst zum Bewußtsein, wie eng sie eingeschnürt gewesen, wie eine ebenso berechnende als grausam-groteske Einseitigkeit ihre zu blindem Heroismus verbogene Kindlichkeit eingeengt hatte, bis sie von alldem äußeren und inneren Drill vorzeitig müde geworden. (Vielleicht lag die letzte Begründung für diese geistige Enge in dem Hinweis, den mir bereits 1937 ein alter weifischer Abgeordneter des alten Reichstags gegeben: „Sehen Sie sich die Reichsregierung einmal näher an, sie besteht zu 70 Prozent aus Halbgebildeten ...“) Rein negativ betrachtet, geht die Feststellung nicht fehl: Die heutige Jugend trauert der Literatur des vergangenen Systems nidit besonders nach. Welche Wünsche hat sie nun tatsächlich? Denn die beiden großen Konkurrenten des Buches, Rundfunk und I ilm, haben in den letzten Jahren unbedingt an Bedeutung verloren, unsere Jugend ist im allgemeinen wieder recht lesefreudig und dabei nicht wahllos in ihren Interessen.

Die jüngeren Jahrgänge, etwa die Zwölf-bis Vierzehnjährigen, tasten sich langsam aus der Märchen-, Sagen- und Abenteuerwelt in die Bereiche der Reisebeschreibungen und Entdeckungsfahrten vor, auch sie verweilen noch einige Zeit bei Karl May, und zwar bei jenem Karl May, der nicht ertt von Partei und Staat empfohlen werden mußte, sondern der schon die Generation vor und nach dem ersten Weltkrieg zu begeistern vermocht hatte. — Die Bücherzahl der Älteren ist einerseits von der bevorstehenden Berufswahl bestimmt, hier ist das tech-nisch-naturwissenschaltliche Interesse immer wieder vorherrschend, andererseits ist aber auch ein lebendiger Sinn für die bleibenden Werke unserer Literatur bemerkbar. Während beachtsamerweise für die noch etwas muskelschwache Gegenwartsliteratur und auch alles Fremde (trotz guter Übersetzungen) wenig Interesse vorhanden ist. Nicht selten wird Stifter verlangt oder die Novellen von Ferdinand von Saar, man wählt Goethe und Grillparzer'(und zwar nicht nur, wenn ein Referat eine unmittelbare Vorbereitung verlangt), die Dramen Schillers und Hebbels, Strindbergs und Gerhard Hauptmanns. Neben größeren kultur- und kunstgeschichtlichen Abhandlungen besteht für den historischen Roman, dieser in unserer Über-gangszeif wohl problematischesten Litcratur-gattung, mit das lebhafteste Interesse. Hier herrscht das echt jugendliche Bedürfnis nach Wissensvermittlung in .anregender Form, einer Forderung, der der g u t e historische Roman ja auch vielfach entsprochen hat.

Damit gelangen wir schließlich nodi zu einer nicht weniger beachtenswerten Feststellung: Besonders die älteren Jahrgänge, die ja meist schon über das Durchschnittsalter ihrer Klassen hinausgewachsen sind, fühlen immer mehr die breiten Wissenslücken, die die Jahre vor dem Umbruch in allen Gegenständen hinterlassen haben. Ordensburg und Flakstellung, Exerzierplatz und Luftschutzkeller waren nicht gerade die geeigneten Stätten für geistige Schulung und Vertiefung; heute spüren es nidit nur die Lehrer, sondern auda die Schüler selbst, daß die Grundlagen mehr als'unzureichend sind. Wenn es heute nicht selten ist, daß ein deutscher Maturaaufsatz wegen mangelhafter Rechtschreibung negativ beurteilt werden muß oder eine Maturaklasse, die Tacitus und Cicero lesen soll, in den grammatischen Elementen keinerlei Sidier-heit aufweist, so wirft dies ein seltsames Licht auf die geistigen Voraussetzungen des auf wenigstens ein Jahrtausend beredineten „Dritten Reiches“. Und dies ernste Bewußtsein unbedingter. Ergänzungsnotwen digkeit läßt die jungen Menschen oft zu umfangreicheren wissenschaftlichen Werken greifen, zu deren Lesung sich die früheren Generationen wohl erst während des Universitätsstudiums entsdilossen hätten. In den meisten jungen Menschen ist ein besonderes Maß von Verantwortung lebendig, die zu pflegen und zu fördern eine edle Aufgabe bedeutet. Wenn man als Lehrer nicht nur Sdiulbeamter, als Bücherwart nicht nur Registrator ist, sondern dem jungen Menschen irgendein Buch mit einem verstehenden Wort, einem aufmunternden Hinweis in die lebendigen Hände legt, dann erfährt man oft Auffassungen und Urteile, die wie Bekenntnisse anmuten, da offenbart sich eine Knabenseele, zu der der Zugang im Klassenzimmer doch meist nur mittelbar bleibt.

Von diesen Erwägungen au$ drängt sich uns ein letzter Gedanke auf: Unsere Büdicreien und deren sinnvolle Betreuung müssen heute vielfach noch die immer noch fehlenden Schulbücher ersetzen. Wir haben och kein einziges Lesebuch, es fehlt uns auch nodi jedes geeignete Geschichtsbudi, um so dringlicher erscheint es, der Ie*se-freudigen Jugend im besten Sinne des Wortes an die Hand zu gehen. Wir besitzen ja schließlidn audi noch keine eigentliche Jugendliteratur, Ansätze dazu verteilen sich auf zahlreiche Jugendzeitschriften, denen die Schüler mit einiger Reserve begegnen, die man ihnen wohl kaum verdenken kann. Um so ernster ist die Verantwortung derer, die zur Schaffung der neuen Schulbücher berufen werden, die uns neue Jugendbücher schenken sollen; möge gerade für diese das Wort Roseggers gelten: „Der Dichter sol! ein wie ein starker Baum, sein gesunder Stamm tief im Heimatboden wurzelnd, seine Zweige aber in alle Weite greifend und zu einem Himmel weisend, der sich über allen wölbt.“ Denn unsere Jugend isr empfänglich und erwartungsfroh, lern-fneudig und dankbar, sie steht mit offenen Händen und Herzen vor uns und hat ein Recht darauf, nachdem ein früher Sturm der Enttäuschung über ihren jungen Schei tel dahingebraust, wertvollstes Gut zu empfangen aus Heimat und Welt.

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