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Paradox und grausam

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Die Schwierigkeiten in Nordirland liefern nicht nur Stoff für Fernsehsendungen und Anschauungsmaterial für Möchtegernrevolutionäre. Sie haben auch ein Betätigungsfeld für Verhaltensforscher und Mediziner geschaffen. Die jetzt vier Jahre andauernden Unruhen haben für einen schier unerschöpflichen Vorrat an neurotischen und sonstwie kranken „Versuchskaninchen“ gesorgt.

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Die Schwierigkeiten in Nordirland liefern nicht nur Stoff für Fernsehsendungen und Anschauungsmaterial für Möchtegernrevolutionäre. Sie haben auch ein Betätigungsfeld für Verhaltensforscher und Mediziner geschaffen. Die jetzt vier Jahre andauernden Unruhen haben für einen schier unerschöpflichen Vorrat an neurotischen und sonstwie kranken „Versuchskaninchen“ gesorgt.

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Es gibt zum Beispiel bereits eine umfangreiche Literatur über die Auswirkungen der Krisensituation auf Kinder, die in den am meisten heimgesuchten Gebieten der nordirischen Hauptstadt Belfast leben — sowohl über die physischen Gefahren, denen sie ausgesetzt sind, als auch über die psychologischen Schäden, die von einer Atmosphäre ständiger Spannung und Furcht hervorgerufen werden können.

Eines der interessantesten Ergebnisse der Studie zeigt, daß in solchen gefährdeten Gebieten die für diese Altersgruppe allgemein typische Rebellion gegen die Welt der Erwachsenen fast völlig verschwunden ist. Statt dessen entwickelt sich eine ausgeprägte Konformität mit der Vorstellungswelt der Eltern und der übrigen Erwachsenen in der jeweiligen Wohngemeinschaft. Natürlich gehört die Ghettogemeinschaft seit Jahrzehnten zum Erscheinungsbild von Belfast. Die dadurch bedingte Belagerungsmentalität macht sich bei allen Generationen bemerkbar. Trotzdem hatte man in der Vergangenheit immer wieder gefunden, daß heranwachsende Jugendliche in der Auflehnungsphase ihrer Entwicklung weniger Sympathie für die sektiererischen Angst- und Feindschaftsgefühle ihrer Eltern bewiesen. Die Veränderung machte sich zuerst unter den katholischen Jugendlichen bemerkbar, und zwar in dem Maße, in welchem die Kampagne der Provisorischen IRA um sich griff. Sue Jenvey schreibt dazu: „Die Führer der IRA-Einheiten waren in der Regel knapp über 20 Jahre alt. Mit abnehmendem Rang nahm auch das Alter der Mitglieder ab. Und mit der zunehmenden Internierung älterer Brüder wuchs auch die Rekrutierung immer jüngerer IRA-Mitglieder. Jungen, deren Väter oder Brüder verhaftet worden waren, blieben von den Angstzuständen ihrer Mütter ebensowenig unberührt wie von der Verringerung des Familieneinkommens, wenn die älteren Familienmitglieder länger fortblieben. Die Jungen sahen ihre Feinde, entsprechend der jeweiligen Situation, in der Stormont-Regie-rung, der Polizei oder dem britischen Militär. Diese Autoritätsgestalten ersetzten ihre Eltern und die Erwachsenenwelt im allgemeinen als

Hauptangriffsziele der Halbwüchsigen.''

Die Rekrutierung protestantischer Jugendlicher in ihre extreme Organisation, die UDA, verlief in mancher Hinsicht anders als bei der IRA. Das ergab sich schon aus der unterschiedlichen Aktionsweise der beiden Organisationen: die UDA demonstriert ihre Stärke durch formierte Märsche und öffentlichen zak-kigen Drill, die IRA durch Untergrundoperationen. Die protestantischen Halbwüchsigen führten ihre antikatholischen Aktionen zunächst völlig unabhängig von ihren Eltern durch — innerhalb der sogenannten „Tartan Gangs“, Banden, die als Uniform zu ihren Blue je ans verschieden gemusterte Schals tragen. Das Bandenwesen gehört gleichfalls zu den uralten Traditionen von Beifast, unterschied sich aber in der Vergangenheit kaum von ähnlichen Erscheinungen in anderen Großstädten. Anti-protestantische oder antikatholische Schlachtrufe hatten lediglich den Zweck, Gruppenloyalität zu wecken und Mut zu machen, nicht aber, sich den Vorurteilen der Eltern zu verschreiben. Häufig kam es sogar vor, daß, wie Sue Jenvey schreibt, „ ... katholische Banden gegen andere Katholiken kämpften und protestantische Banden gegen andere Protestanten. Doch während sich der sektiererische Konflikt zwischen den Erwachsenen intensivierte, fand eine Neuverteilung der Fronten zwischen den Halbwüchsigenbanden statt: protestantische Tartan Gangs, die sich vorher Straße um Straße gegenseitig bekämpft hatten, formierten sich jetzt zu größeren Gruppen und griffen gemeinsam katholische Ziele an: hauptsächlich katholische Gebäude und katholische Kneipen, aber auch katholische Jugendbanden, wenn sie ihnen zufällig über den Weg liefen. Trotzdem traten zuerst nur wenige Bandenmitglieder der extrem-protestantischen UDA bei. Stundenlanger Drill in Regimentsformation erschien ihnen wenig attraktiv. Ein

Tartan-Gang-Mitglied erklärte mir, seine Bande habe die Disziplin der UDA unerträglich gefunden und eine Splittergruppe gegründet. In jüngster Zeit jedoch zeigte auch die heranwachsende Jugend unter der protestantischen Bevölkerung immer stärker eine bedingungslose Unterstützung für die UDA, in dem Maße nämlich, in dem sie konkrete Aufgaben erhielt, wie Wachdienst auf den protestantischen Barrikaden oder Durchsuchungen von Passanten und Autos.“

Diese Einpassung der Jugendtoan-den in das System der militanten Erwachsenen äußert sich jedoch nicht nur in einer zielbewußten Gewalttätigkeit. Die Auswirkungen gehen sehr viel weiter. In der Studie heißt es: „Viele der alten Ansammlungsplätze — Kinos, Diskotheken, Jugendklubs — mußten infolge von Bombenschäden oder Bombendrohungen geschlossen werden. Ausflüge ins Stadtzentrum sind sehr viel seltener geworden, einmal wegen der Bombenanschläge und zum andern, weil die Jugendlichen jetzt immer weniger geneigt sind, ihr unmittelbares Territorium zu verlassen.“

Unter dieser Situation leiden natürlich ruhigere, empfindlichere Jungen, vor allem aber die Mädchen. Bei den Straßenschlachten sind sie lediglich Zuschauer. Tanz und Kino gibt es nicht, weil die Lokale geschlossen sind oder die Jungen einfach keine Lust oder Zeit haben, die Mädchen auszuführen. Die meisten Mädchen, so stellte Sue Jenvey fest, verbringen ihre ganze freie Zeit zu Hause: „Da die Männer und die älteren Jungen freiwillig oder gezwungenermaßen von zu Hause abwesend sind und viele Mütter inzwischen an erheblichen nervlichen Störungen leiden, fällt vielen Töchtern die Aufgabe zu, die jüngeren Mitglieder der Familie zu versorgen. Allerdings ist dieses frühzeitige Verantwortungsgefühl für die Familie nicht auf die Mädchen beschränkt. Viele 14- oder 15jährige Jungen sagten mir, sie machten sich Sorgen um ihre Familienangehörigen, wenn sie nicht zu Hause seien.“

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