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Irlands „Jerusalem“ wieder katholisch!

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In relativer Stille und - vor allem - völlig unblutig hat sich in Nordirland eine kleine Sensation vollzogen. Die Stadt Derry, deren Administration vor rund 400 Jahren von einer entschlossenen protestantischen Minderheit übernommen worden war und von der vor rund zehn Jahren der Bürgerrechtskampf der irischen Katholiken seinen Ausgang genommen hatte, befindet sich wieder unter katholischer Verwaltung.

Die Stadt war um 1600 von britischen Siedlern in „Besitz“ genommen und auch prompt in Londonderry umgetauft worden. Ein altertümliches Wahlrecht nach einem Zensussystem, das den Grundbesitzern eine stärkere Gewichtung ihrer Stimmen sicherte, war Garant für die protestantische Vorherrschaft in der Stadtverwaltung.

All dies hat sich nun geändert, denn die Protestanten sind im Laufe der Zeit auf die andere Seite des Foyle River gezogen, so daß das Westufer heute wieder nahezu vollständig dem katholischen Lager zuzuzählen ist. Ein protestantischer Stadtrat charakterisiert die Motive für diesen Exodus damit, daß „die Menschen sich unter ihresgleichen eben sicherer fühlen“.

Dennoch geht es nicht nur um die Verlegung des Wohnsitzes allein, die Frage ist auch stark emotional aufgeladen: es war auf dem Westufer, wo - auf der Stelle eines alten Klosters - die englischen Siedler eine Festung er richtet hatten und viele Siedler im Kampf mit den Iren ihr Leben lassen mußten. Das Westufer wurde dadurch zu einem politischen „Wallfahrtsort“ der Protestanten, in dem jährlich die protestantische Machtergreifung in Irland feierlich begangen wurde.

Für den Auszug der Protestanten gab es handfeste Gründe: Den Anfang machten die Geschäftsleute, deren Geschäfte von den Terroristen regelmäßig bombardiert wurden. Sie haben resigniert, beklagen sich aber heute noch über die zu geringen Entschädigungszahlungen durch die Londoner Behörden. Die andere Bevölkerung folgte, und es gibt heute nur noch ein paar hundert Protestanten auf der West Side. Damit war jedoch auch ein - erfreulicher - Rückgang der Gewalttätigkeiten zu verzeichnen. Obwohl die Armee noch immer ihre Patrouillen durchführt, wird die Atmosphäre generell als wesentlich entspannter bezeichnet.

In der Zwischenzeit ist auch ein neues Wahlrecht eingeführt worden, das auf dem Prinzip „one man - one vote“ (ein Mensch - eine Stimme) basiert, und die Katholiken versuchen, durch eine konziliante Politik den Protestanten nicht mit gleicher Münze heimzuzahlen, was diese in der Vergangenheit den Katholiken an Benachteiligungen widerfahren haben lassen. So wurden etwa in der Zeit der protestantischen Verwaltung öffentli che Aufträge grundsätzlich nur an protestantische Unternehmungen vergeben und Protestanten bei Wohnungswünschen bevorzugt.

Die Katholiken haben nunmehr die Stadtverwaltung „demokratisiert“, eine Entwicklung, die von den Protestanten zum Teil als Danaergeschenk gewertet wird, da sie befürchten, daß dadurch ein Klima der politischen Partizipation erzeugt wird, das letztlich auch die zahlreichen protestantisch dominierten Gemeinden zwingen würde, den Katholiken mehr Mitsprache zu geben. Dies jedoch würde wesentliche Machtstellungen der Protestanten in Nordirland gefährden und einen stärkeren wirtschaftlichen Aufschwung des katholischen Bevölkerungsanteiles bewirken.

Die Lage wird nicht nur optimistisch beurteilt: Viele Beobachter sind der Meinung, daß es für eine großangelegte Integration der katholischen und protestantischen Bevölkerungen nach all den Geschehnissen der letzten Jahre schon zu spät sei und daß ein neuer Separatismus entstehen wird.

Die Stadt Dejry dürfte den Beobachtern recht geben, denn trotz relativer Ruhe und Frieden hat keine Integration stattgefunden, sondern eine Trennung in praktisch zwei Städte.

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