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Made in England

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„ALS DAS REISEN NOCH SCHÖN WAR." Diesen Stoßseufzer setzte der englische Schriftsteller Evelyn Waugh wenige Jahre nach dem zweiten Weltkrieg als Titel über einen Sammelband von Erzählungen, die von seinen Abenteuern bei fremden Völkern in den späten zwanziger und dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts berichten. Dem jederzeit zur Ironie aufgelegten Weltenbummler schienen Reisen im Zeitalter der Düsenclipper und der an allen Ecken und Enden der Welt emporwachsenden Hiltonhotels weder unternehmenswert, geschweige denn auch nur noch einer Zeile eines Berichts würdig. Und doch kann der Mitteleuropäer aus dem Jahr 1961 auf einer Reise noch manche Entdeckungen machen und viele Überraschungen erleben. Er braucht dazu nicht den Flug auf die Bahama-Inseln buchen oder dem Land der Kirschblüte einen Besuch abstatten. Die Entdeckungen sind vielleicht größer und die Überraschungen zahlreicher, wenn er die Möglichkeit hat, der Heimat des Schriftstellers, der das Reisen nicht mehr schön und unternehmenswert findet, einen ersten Besuch abzustatten. Fünf Tage England sind zwar wirklich nicht ausreichend, um jenen, der das erste Mal seinen Fuß auf die britischen Inseln setzt, auch nur vorletzte Einsicht in das „Vereinigte Königreich“ — so der uns allen wenig vertraute Name — zu vermitteln und Einblicke in das Leben seiner Menschen zu geben, deren Zurückhaltung sprichwörtlich ist. Er wird jedoch von Tag zu Tag immer mehr dessen gewahr werden, wie vieles hier „anders“ ist, auch wenn es sich nicht gleich auf den ersten Blick so vorstellt. Anders, nicht nur wie zu Hause in Österreich, nein: anders wie überall sonst, wohin den Besucher zwischen Paris und Warschau, zwischen Berlin und Tel Aviv im letzten Jahrzehnt die Reise führte. Eben: Made in England.

LONDON EMPFÄNGT am Stadtrand mit zahlreichen Warnschildern „Turn to the left". Sie rufen dem „Kontinentalen“ auf Schritt und Tritt in Erinnerung, daß er hier seine „Gangart“ ändern muß. Von der Stadtgrenze bis in die inneren Bezirke der Achtmillionenstadt benötigt der Autobus eineinhalb Stunden. „Die inneren Bezirke“? Diese Worte sind mit Absicht gewählt. Denn einen echten Stadtkern, eine Altstadt, hat der suchende Fremde eigentlich nicht entdecken können. Die City? Die grauen in viktorianischem Stil — die englische Ausgabe unserer protzigen Gründerbauten — errichteten Häuserzeilen sind nicht das, was wir als Herz einer Stadt verstehen. Der Piccadilly Circus? Vielleicht! Aber auch er schien eher nur als ein fester Punkt in der verwirrenden Flucht der Plätze, Gärten und Straßen auf dem Territorium, das London heißt. Und der Buckingham-Palast ist eher Schönbrunn als die Hofburg. Und der Tower? Wer meint, hier Alt- London entdeckt zu haben, wird durch die benachbarten Feuermauern riesiger Dockanlagen sogleich daran erinnert, daß er mitten im Hafenbezirk steht. Und im Straßenbild erinnert die nach Ansicht englischer Freunde im letzten Jahrzehnt sprunghaft angestiegene Zahl farbiger Einwanderer, nicht zuletzt aus den heute noch britischen Besitzungen West indiens — schon stellen sie ein Drittel des Personals der Londoner Verkehrsbetriebe —. daran, daß London eben keine Stadt, sondern ein Kosmos ist. Und in einem Kosmos ist eben nichts so beständig wie der Wechsel.

Dann aber drückt dir der Schaffner in einem der herrlich altmodischen, aber doch so praktischen Londoner Autobusse unter dem zurückgegebenen Kleingeld ein Penny-Stück in die Hand, das das Bild der Queen Victoria zeigt. Mißtrauisch beäugt es der Fremde. Die Jahreszahl 1900 läßt unwillkürlich an längst außer Kurs gesetzte Münzen denken. Aber die Befürchtung, ungültiges Geld ausgehändigt zu bekommen, ist hier völlig abwegig. Nicht nur, daß unser Penny nach wie vor im Kurs steht, man wird sogar in seinem Stolz, eine Rarität erhalten zu haben, sehr bald gekränkt, wenn einem ein Kollege einen Penny mit der Jahreszahl 1893 und einem Jugendbildnis der Queen Victoria vor die Augen hält. Ein Kosmos in Bewegung und eine Ordnung, die inmitten dieser Bewegung unerschüttert und unerschütterlich steht. Eben: Made in England.

ABENDVORSTELLUNG IM PALLADIUM — einem jener Revuetheater vom Typus des seinerzeitigen Wiener Kolosseums, die bei uns schon vor Jahrzehnten in Großkinos umgewandelt wurden. Hier werden die auch heute noch in ganz England beliebten Ausstattungsrevuen gepflegt. Im Zuschauerraum fallen die zahlreich anwesenden Kinder auf. Unser englischer Freund belehrt uns, daß diese Revuen gerne Themen der englischen Geschichte aufnehmen. Und so geschah es auch. „Turn again Witting- ton“, gibt nicht nur den Rahmen für das Auftreten eines der beliebtesten und originellsten englischen Komikers ab, es wandelt auch den Aufstieg eines armen Handwerksburschen zum Lordmajor von London mit großem Trara ab. Viel Flitter, heiße Rhythmen, dazwischen Groteskkomik und Songs. Großes Finale. Schon treten die Schauspieler, Sänger und Revuestars vor den Vorhang, um den Applaus des Publikums entgegenzunehmen, da hebt der Dirigent noch einmal den Taktstock, die Zuschauer erheben sich und das „God save the Queen“ beendet den Abend. Die Schauspieler singen aus vollem Halse und sogar Wittingtons Kätzchen, das eben erst auf vier Beinen munter her- umgehoppst ist, steht aufrecht stramm. Und dies alles ist die selbstverständlichste Sache der Welt. Made in England.

CARDIFF BEGRÜSST MIT HAKENKREUZFAHNEN. Überall auf dem Kontinent wäre eine solche Reklame für den Film „Mein Kampf“ nicht nur wenig geschmackvoll, sondern kaum möglich. Hier aber, auf der britischen Insel, über die nie die rote Fahne mit dem schwarzen Gegenkreuz wehte, ist dies nichts anderes, als wenn als römische Legionäre verkleidete Sandwichmänner etwa für „Ben Hur“ Reklame machen— Von der Hauptstadt von Wales geht die Autobusfahrt durch eine karge Landschaft. Hügel rücken näher. Wir befinden uns mitten im großen Industrierevier von Wales. Vor einem Vierteljahrhundert war der ganze Landstrich ein riesiges Notstandsgebiet. Diese Jahre haben neben der uralten Aufsässigkeit der Waliser einen bestimmten Typ der englischen Politik geprägt, für den etwa Aneurin Bevan charakteristisch war. Die Notzeiten gehören heute der Vergangenheit an. Neben der Schwerindustrie des Bergbaues und der Eisenproduktion ist eine Bewegung zur Vervielfältigung der Industrie und zur Einführung neuer Berufe nach dem zweiten Weltkrieg wirksam geworden. Diese Bewegung wurde nicht zuletzt auch von großen Privatfirmen getragen, wie von der bekannten Hoover Limited, die in der Gegend von Merthyr über vier Fabriksanlagen mit einer Gesamtfläche von 67.044 Quadratmeter verfügt.

Das Hauptwerk dieses Konzerns, der heute neben der Herstellung von anderen Haushaltsgeräten 75 Prozent des britischen Exports an Waschmaschinen bestreitet, ist das Ziel unserer Reise, die uns an einem Beispiel Einblick in die englische Wirtschaft geben soll.

AM ANFANG STAND DIE ENGLISCHE KRIEGSWIRTSCHAFT. In ihr produzierten die Hoover-Werke Motoren für Jagdflugzeuge. Friedlichere Zeiten ließen dann friedlichere Projekte reifen. An der Peripherie von Merthyr Tydfil wurde ein geeignetes Gelände gewählt und nach Entfernung von drei Viertel Millionen Tonnen Kohlenstaub und Schlacke schritt man an die eigentlichen Bauarbeiten für ein großes Werk. Am St.-Davids-Tag 1948 wurde die erste Waschmaschine fertiggestellt. Seither läuft das Band. Aber die Techniker ruhten nicht. Aus einer Type wurden inzwischen sieben verschiedene Modelle mit Sondermerkmalen, die den besonderen Verhältnissen in etwa hundert Ländern der ganzen Welt entsprechen. In der erst im letzten Jahr fertiggestellten neuen Werkanlage — hier triumphiert bereits weitestgehend die Automation — läuft Hoovers großer Triumph, die „Keymatic“, eine vollautomatische Waschmaschine, die erst im Laufe des nächsten Winters wahrscheinlich in Österreich auf dem Markt erscheinen wird und die das Nonplusultra in diesem Industriezweig darstellen dürfte. Was auch den Nichtfachmannn interessieren kann, ist die Präzision der Produktion durch Maschinen, die wiederum jede einzelne für sich ständigen Qualitätskontrollen ausgesetzt sind. Es ist wie in der englischen Textil- und Autoindustrie: Das Modische und das Verspielte tritt hinter Solidität und Beständigkeit zurück. Made in England.

NACHTFAHRT IM SPEISEWAGEN nach London. Erst beim Aussteigen bemerkt man, daß die breiten Fauteuils, die hier die Rolle der kontinentalen Klappsitze einnehmen, nicht festgemacht sind. Auch der Tisch ist mit einem Handgriff zu entfernen, unc doch hat man während des ganzei Abendessens den Eindruck gehabt man sitze in einem Restaurant. Eir Speisewagen als Gleichnis für eir Land. Alles ist lose, frei und ohne sichtbare Klammern. Und alles ruhi doch fester im Raum, als wenn Dutzende Schrauben und Nägel, Gesetze und Vorschriften es festhalten wollen. Vielleicht gerade deswegen. Made in England.

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