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Tief unter dem Herzen von Westminster

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In jedem Zeitalter gibt es ein paar vom Schicksal begünstigte Menschen, die dank einer Verbindung von Verdienst und Glück in der Lage sind, einen nahen Eindruck von dem zu gewinnen, was man „Geschichte machen” nennt. Zu diesen Menschen gehört Mr. George Rance, der Majordomus oder Kustos der mit einem Hotel kombinierten unterirdischen Festung, von der aus der Krieg in London dirigiert wurde. Dieser Mann konnte wahrscheinlich den Mechanismus, der die Geschicke Großbritanniens von einęm unheilvollen Anfang bis zum Siege leitete, genauer beobachten als sonst irgend jemand außer dem Kriegskabinett und den Stabschefs selber.

Bereits im Jahre 1937 war beschlossen worden, daß im Falle eines Krieges die Kabinettsminister und die Oberbefehlshaber der Armeeteile zusammen mit ihren Sachverständigen und Sekretären Quartiere erhalten müßten, die selbst gegen die schlimmste Entwicklung eines Luftkrieges sicher sein würden. Zu diesem Zweck wurde tief unter dem Herzen von West- minster eine stark gesicherte Flucht von Amtsräumen, Schlafzimmern, Konferenzzimmern und Kantinen angelegt, in der die Regierung im Notfall 14 Tage lang und auch noch länger eine Belagerung hätte durchstehen können.

Es war selbstverständlich, daß der Mann, der zum Wärter dieses gepanzerten Herzens der britischen Kriegsmaschinerie ausersehen wurde, von höchster Zuverlässigkeit sein und nicht geringen Takt und diplomatische Fähigkeiten besitzen mußte.

Mr. Rance ist 74 Jahre alt. Den ganzen Krieg hindurch erzählte er nicht einmal seinen erwachsenen Kindern von seiner Beschäftigung. Er gewöhnte es sich sogar an, selbst seine besten Freunde zu meiden, aus Angst, daß irgendeine zufällige Bemerkung seinerseits irgendeine Information enthalten könnte. Als Belohnung für diese eiserne Zuverlässigkeit besitzt er die persönliche Freundschaft Churchills. Um einen Eindruck von dem eigentümlichen unterirdischen Bau zu gewinnen, in dem er nun zehn Jahre seines Lebens verbracht hat, begleitet man ihn einmal im Geiste bei einem Besichtigungsgang. Wir betreten den Hauptbau und steigen zwei Steintreppen hinunter. Von diesen Treppen gehen keine Türen. Denn dieses ganze schützende Stockwerk bildet eine einzige feste Masse von Stahlträgern, Schienen und Beton. Schließlich erreicht man eine Tür und kommt durch sie zu einer zweiten, die an ein Schott in einem Schiff erinnert. Wenn man diese Tür passiert, so befindet man sich plötzlich in der eigenartigen, unverkennbaren Atmosphäre der „Geschichte”.

Diese Atmosphäre wirkt ruhig und einigermaßen unirdisch. Die langen, von Säulen und scharlachrot gestrichenen Stahlträgern gestützten Galerien, das fast unhörbare Summen der Ventilatoren und das glänzende Messing auf den Uhren und verschiedenen Ausstattungsgegenständen erwecken den Eindruck, als ob man sich auf einem verlassenen Passagierschiff befände.

Wir folgen Mr. Rance durch den Gang, machen ein paar scharfe Kurven und stehen vor einer Tür, die ein elegantes Pappschild trägt; Mrs. Churchill. So wie alle anderen Räume ist auch dieses Zimmer geblieben, wie es war. Wenn das Licht angedreht wird, erkennt man, daß dieses Zimmer zwar nur die notwendigste Einrichtung enthält, daß aber ü er dem vergoldeten, dreiteiligen Spiegel auf der Kommode und den königlichen Monogrammen auf dem Waschtisch, die dessen Einfachheit vergessen lassen, ein Fluidum freundlicher Kultiviertheit liegt.

Man überquert einen Gang, der zur Küche führt, und erreicht das private Speisezimmer des Premierministers. Auch dieses ist klein, trägt aber denselben Stempel von Behaglichkeit. Es ist, als ob jetzt noch geisterartig dahinziehende Schwaden von Zigarrenrauch und schlagfertige Gespräche nach Tisch der Einsamkeit dieses Raumes widersprächen. Wir gehen weitere Flure entlang, deren Türen rechts und links 3ie Namen der Kabinettsminister und der Oberbefehlshaber der Armeeteile tragen, bis man zuletzt die eine Tür erreicht, nach der man schon gesucht hat. Wir haben eine Holztafel vor uns, auf der die Worte aufgemalt sind: Der Premierminister.

Dieser Raum ist etwas größer als die Zimmer der anderen Minister. Rohe, ungehobelte Balken stützen die Decke, und auf den Karten von Großbritannien, die zwei Wände bedecken, bemerkt man farbige Zeichen, die angeben, welche Küstengebiete am gefährdetsten und am geeignetsten für die Landung von Panzern waren. Neben Churchills Arbeitstisch befindet sich eine Tafel mit der Aufschrift „Sender eingeschaltet”, denn von diesem Tisch aus hielt der Premierminister während des Krieges seine berühmten Reden. Und wenn man die Worte betrachtet: „Sender eingeschaltet”, so hört man die alten, so oft zitierten Worte wieder: „Wir werden uns niemals ergeben! Niemals… haben so viele so wenigen so viel geschuldet.” Es gibt wohl kaum einen Ort in England, der mehr vom Widerhall der Geschichte erfüllt ist als dieser verlassene Unterstand.

Gleich in der Nähe befindet sich der Knotenpunkt der Galerien, die sich außerhalb des Kabinettzimmers treffen. Hier sind grüne und rote Lampen angebracht, die anzeigten, ob ein Angriff im Anzuge war, und an der Wand hängt ein Anschlagbrett, von dem man ablesen konnte, was für ein Wetter „oben” herrschte.

Hier kann man verweilen und darüber nachsinnen, wie der Schauplatz während des Krieges vor einer kritischen Kabinettssitzung aussah. In beiden Richtungen zieht vor unserem Geiste ein zeitweilig unterbrochener Strom von Sekretären, Offizieren und anderen vorüber, wie sie für die Kleinarbeit des Kabinetts in verschiedenen Aspekten verantwortlich sind.

Man hört von draußen eine plötzliche Bewegung und weiß: der Premierminister kommt! Und mit ihm der bescheidene stellvertretende Premierminister und der John Bull der Arbeiterklasse, Emest Bevin; der streitsüchtige Lord Beaverbrook, Sir John Anderson, der langschädelige ehemalige Finanzminister, Eden und Cripps, Portal und Alexander und ein Dutzend anderer.

Sie betreten den wichtigsten Raum von allen, das Kabinettzimmer, dessen helle, mit Temperafarbe gestrichene Wände sich von den tiefroten Stahlträgern, von den dunkelblauen Sesseln und von dem mit Tuch bespannten Tisch abheben, der ein parallel zu den Wänden verlaufendes Quadrat bildet. Neben jedem Löschpapier steht ein Aschenbecher und auf Churchills Löschpapier liegt ein dolchartiges Papiermesser, das er, wie er einmal zu Mr. Rance bemerkte, hier für seine letzte Begegnung mit Hitler bereithielt. Hier wurde der Krieg gewonnen; und von hier, dem wahren Herzen der britischen Kriegsmaschinerie, wurde ein endloser Strom von Befehlen in alle Arterien und Venen der britischen Schlachtfelder von Burma bis zu den westlichen atlantischen Zufahrtsstraßen gepumpt.

Gleich neben dem Kabinettzimmer befindet sich ein kleiner Raum, kaum größer als die Fernsprechzelle in einem Hotel, in dem Churchill seine Telephongespräche mit Roosevelt im Weißen Hause abhielt. Im benachbarten Zimmer steht ein großer Apparat von unheimlicher Kompliziertheit, der gewährleistete, daß diese Gespräche tatsächlich geheim waren und blieben. Und obwohl dieser Apparat inzwischen von den amerikanischen Technikern, die ihn auf- gestellt hatten, wieder abgeholt worden ist, genügen die Drähte und Kabel, die hier noch herumliegen, um jeden Beschauer — außer wohl einen höchst routinierten Techniker — in hilflosen Schrecken zu versetzen. Die Uhr dieses Apparates hatte zwei Paar Zeiger, das eine Paar zeigte die britische, das andere die Washingtoner Zeit an. Es ist wirklich eine unheimliche kleine Kammer, die nur von einem gedämpften grünen Licht erhellt wird, das dem dumpfen Leuehten eines Glühwürmchens ähnelt.

Schließlich kommen wir zu dem Seekartenzimmer, in dem sich die diensthabenden Offiziere des Heeres, der Marine und der RAF im Schichtendienst mit der Auswertung der einlaufenden Meldungen befaßten. Hier befinden sich farbige statistische Diagramme, die alles für das Kabinett Wissenswerte zeigen — von den Schwankungen der Schiffsraumverluste angefangen, ‘über die militärischen und zivilen Verluste bis zur Entwicklung der Lebensmittel importe und der Einkommenshöhe der verschiedenen Bevölkerungsgruppen, je nachdem wie sie durch die erhöhten Steuern betroffen wurden. Im benachbarten Landkartenzimmer liefen sämtliche neuesten Meldungen aus Großbritannien selbst Und dem Auslande zusammen.

Mr. Rance knipst das Licht aus, und man steht wieder in dem langen Haupt- gang. „Erzählen Sie uns noch mehr”, bittet man ihn. Aber er erwidert: „Uber die Dinge, die ich hier gesehen habe, könnte ich Ihnen monatelang erzählen. Aber ich habe mich gewöhnt, den Mund zu halten.”

Mr. Rance wird nun endlich in den Ruhestand treten. Und wir nehmen von ihm Abschied, indes er — wie in Erinnerungen Versunken — an der Schwelle des Baues steht, der eine Epoche vergangener Geschichte verkörpert.

Nachdrude verboten. Copyright by W. F. Everybodys und „Die Furche”.

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