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Die Frage, die England heute bewegt

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Viele erinnern sich eines kleinen, damals kaum beachteten Zwischenfalls, der sich im Anschluß an die Krönungsfeierlichkeiten in der Westminster-Abtei zugetragen hat. Ob der Regen daran schuld war, der das Pflaster schlüpfrig gemacht hatte, oder eine Unachtsamkeit des Kutschers — jedenfalls, die Pferde einer der Equipagen, die im festlichen Umzug mitfuhren, wurden unruhig, und, um einer Stockung vorzubeugen, führten herbeieilende Offiziere den Wagen seitwärts und durch das Spalier, hinter dem er alsbald in der dichten Menge der Zuschauer verschwand. Es war, wie man erfuhr, der greise Regierungschef selbst, dem es auf diese Weise versagt blieb, den Krönungszug bis zum Ende mitzu machen; was nicht wenigen nachträglichen Propheten die Möglichkeit gab, jetzt zu behaupten, sie hätten schon damals und auf der Stelle den ominösen Charakter des Vorfalls erkannt, und vorausgesehen, daß Winston Churchill in naher Zukunft gezwungen sein werde, seine dominierende Position auf der politischen Bühne mit einem Plätzchen im Zuschauerraum zu vertauschen.

Nun, so weit ist es keineswegs. Noch ist Englands Grand Old Man im Amt, wenngleich der dringende Rat seiner Aerzte ihn kürzlich gezwungen hat, die Besorgung der laufenden Staatsgeschäfte bis auf weiteres seinen Mitarbeitern zu überlassen. Aber die Last der Jahre, die seiner wahrhaft erstaunlichen Vitalität bisher nichts anzuhaben vermochte, hat nun doch begonnen, sich sehr fühlbar zu machen, und nach ärztlicher Meinung ist kaum mehr daran zu zweifeln, daß der bald 79jährige auch nach Ablauf einer

längeren Ruhepause nicht mehr in der Lage sein wird, die Sorgen und die Verantwortung seines hohen Amtes weiter zu tragen. Damit, ist die seit langem latente Trage, welche Folgen ein Rücktritt Churchills nach sich ziehen würde, zu-einer unmittelbar aktuellen geworden, obzwar voraussichtlich Wochen oder Monate vergehen werden, ehe ein neuer Mann den Posten an der Spitze der britischen Regierung bezieht. Mit den parlamentarischen Sommerferien ist ja ein genügender Spielraum gegeben, um den Wechsel nach sorgfältiger Vorbereitung und Beratung aller Einzelheiten, auch hinsichtlich der Zusammensetzung des künftigen Kabinetts, durchführen zu können. Darüber mag es sogar Spätherbst werden.

Ueber die Person des präsumptiven Nachfolgers gab es lange Zeit nur eine Meinung. Schon unter der ersten Premierschaft Churchills und auch später, in den Jahren der Labour-Regierung,: galt es als eine ausgemachte Sache, daß Anthony Eden dazu berufen und auserschen sei, einstmals das politische Erbe seines väterlichen Freundes und Lehrmeisters Winston zu übernehmen. Auch heute liegt kein Anlaß vor, zu vermuten, daß sich an den diesbezüglichen Intentionen Churchills etwas geändert haben könnte, wohl aber sind die Ansichten über diesen Punkt innerhalb der konservativen Partei und sonst in der Oeffentlichkeit nicht mehr ganz ungeteilt. Manche würden, bei aller Anerkennung der politischen Begabung Edens, der stärkeren, schärfer profilierten Persönlichkeit Richard A. Butlers den Vorzug geben; mit der Begründung auch, daß die Finanz-

politik des gegenwärtigen Schatzkanzlers wesentlich dazu beigetragen hat, das Ansehen der konservativen Regierung zu festigen und ihre Basis im Volk zu verbreitern.

Soweit als sich die Meinung des Landes, anders als bei der Wahlurne, erheben und feststellen läßt, ist diese Argumentation eine zutreffende. In den kaum mehr als achtzehn Monaten, die seit der Regierungsübernahme durch die Konservativen verstrichen sind, ist es, dank vorwiegend der klugen Maßnahmen Butlers, gelungen, die schwere Krise der englischen Zahlungsbilanz zu überwinden, der 1951 drohenden Gefahr einer nicht mehr kontrollierbaren Inflation einen Riegel vorzuschieben, die Wirtschaft von einer langen Reihe produktiöns- und kommerzhemmender Fesseln zu befreien, zahlreiche rationierte Güter wieder dem freien Markte zuzuführen, und — ein Moment von besonderer Wichtigkeit für die breiten Massen — dem wilden Wettlauf von Preisen und Löhnen ein Ende zu machen. Von Mitte 1951 bis jetzt sind zwar die Detailpreise der Konsumgüter um 12.8 Prozent gestiegen, aber parallel mit ihnen erfuhren auch die Löhne- eine Erhöhung um 12.5 Prozent, wogegen sie in den vorhergehenden Jahren durchschnittlich um 6 Prozent hinter den Preisen zurückgeblieben waren. Noch fühlbarer wurde der erzielte Fortschritt durch die von Butler vorgenommenen Steuerermäßigungen und die entsprechende budgetäre Entlastung auch der Kleinwild Kleinstverdiener.

Solche unleugbare Errungenschaften konnten auch im Lager politischer Gegner ihren Eindruck nicht verfehlen. Uebrigens hatte sich R. A. Butler/ schon als Chef des Unterrichtsressorts im Kriegskabinett Churchill einen Namen gemacht, dessen guter Klang, nicht auf den Bereich der eigenen Partei beschränkt blieb. Das nach ihm benannte Gesetz von 1944 schuf die Grundlage der durchgreifendsten Schulreform, die England seit Beginn des Jahrhunderts erlebt hatte, und erbrachte den Beweis, daß die Konservativen keinen Vergleich mit einer anderen Partei zu scheuen brauchten, wenn es darum ging, allen Kindern des Volkes den Aufstieg zu höheren Schulen, bis hinauf zur Universität, zu eröffnen. Für einen Akademiker von hervorragender wissenschaftlicher Bildung, wie Butler es ist, war die Verwirklichung dieser Reform eine Herzenssache.

Aber ob nun der Mantel der Premierschäft auf Anthony Eden fällt oder auf R. A. Butler, von entscheidender Bedeutung ist diese Frage nicht. Beim einen wie beim anderen kann damit gerechnet werden, daß der Kurs der Churchillschen Politik*, der sich für das Land und dessen Erholung von den Wunden der Kriegs- und Nachkriegszeit als so nutzbringend erwiesen hat, beibehalten werden wird. Dafür bürgt nicht zuletzt auch die große Zahl hochbefähigter Mitarbeiter, die dem künftigen Premier zur Verfügung stehen werden und von denen sich manche, wie zum Beispiel Sir Walter Monckton als Arbeitsminister, Sir David Maxwell Fyfe als Innenminister Peter Thorneycroft als Handelsminister, und andere mehr, bei der Lösung schwieriger administrativer Aufgaben wie auf parlamentarischem Boden bereits hervorragend bewährt haben. Zahlreich und im Zu-

nehmen sind auch die guten Kräfte in den Reihen des konservativen Nachwuchses; ein Grund mehr, die Fortdauer des von Churchill eingezeichneten Kurses weit über die gegenwärtige Legislaturperiode hinaus als wahrscheinlich zu betrachten. Gelingt den Konser-

vativen der Nachweis, und dafür stehen die Chancen günstig, daß sie auch ohne Churchill imstande sind, dem Lande die Führung zu geben, deren es bedarf, dann können sie mit Zuversicht selbst dem Ausgang der nächsten allgemeinen Wahlen entgegensehen.

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