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„Non-Stop-Tagung“ des Kabinetts

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Kaum war Mr. Wilson aus London zurückgekehrt, als das Kabinett praktisch ununterbrochen tagte. Im gleichen Maße, wie die Fußballweltmeisterschaften ihrem Höhepunkt zustrebten, ballten sich in Downing- street 10 die Ereignisse zusammen. Wirtschaftsminister Brown drohte mit seinem Rücktritt, falls seine Bemühungen um eine Einkommenspolitik zunichte gemacht werden sollten. Mr. O’Brien erklärte dem Premierminister trocken, daß es nur noch drei Möglichkeiten gäbe:

• Deflation,

• Abwertung des Pfundes, oder

• Bankrott.

Da die beiden letzten nur theoretisch bestanden, blieb Deflation übrig. Zum gleichen Schluß war der Basler Klub der Notenbankpräsidenten und der Arbeitskreis „Drei“ der OECD in Paris gekommen. Dennoch wartete der Premierminister in seiner bisher schwersten Prüfung im Unterhaus vergeblich auf George Brown. Um 14.30 Uhr langte seine Rücktrittserklärung in Downing- stpeet Nr. 10 ein. Das Drama der Regierung Wilson hatte den Höhe-

punkt erreicht. Dem Zureden seines Staatssekretärs Mr. Rogers und den brieflichen Bitten von 100 Abgeordneten, in der Regierung zu verbleiben, sowie ein Appell der Kabinettsminister an sein Solidaritätsgefühl bewogen ihn schließlich, sein Rücktrittsgesuch zurückzunehmen.

Selbstverständlich bot die Krise der Opposition reichliche Gelegenheit für schadenfrohe Erklärungen. Oppositionsführer Heathmeinte, daß die letzten wirtschaftspolitischen Schritte „überhastet, schlecht vorbereitet, tolpatschig, ein Sack alter Ideen und ein Bündel unausgegorener Maßnahmen“ seien. „Hinweggeschwemmt sind die Ziele des Nationalen Plans der Labour-Regie- rung, weggeweht alle Erklärungen über eine zweckvolle Planung, ein kontrolliertes Wachstum der Löhne und eine stetig wachsende Wirtschaft“. So harsch auch die Worte sein mögen, Mr. Heath ist ein zu verantwortungsbewußter Politiker, um in dem innenpolitischen Triumph nicht ein freudloses Gefühl einen großen Platz einnehmen zu lassen. Vielleicht spielt auch das Wissen mit, daß trotz parteioffiziellem Leugnen die Versäumnisse der konservativen Regierungen zwischen 1951 und 1964 ein gerütteltes Maß an Mitschuld an der gegenwärtigen Lage trifft.

Denn über eine Tatsache ist man sich in London, in Basel und Washington einig: Die letzten wirtschaftspolitischen Schritte werden das grundsätzliche wirtschaftliche Dilemma nicht beseitigen. Die bri tische Industrie ist im Wettbewerb der westdeutschen, japanischen und vor allem der amerikanischen Industrie unterlegen.

Vorderhand kann allerdings, wie der Besuch des französischen Ministerpräsidenten Pompidouzeigte, von einem echten Engagement in Europa nicht die Rede sein. Die nächsten zwölf oder achtzehn Monate wird sich die Wirtschaft stark rückläufig entwickeln. Diesmal kann also nicht die Rede von stop-and-go, sondern höchstens von stop-and- reverse sein, verbunden mit etwa einer halben Million Arbeitslosen. An diesem unerfreulichen Ausblick sind neben den ausländischen Bankiers, die, von ökonomischer Einsicht ziemlich unbelastet, monatlichen Ergebnissen der Wirtschaftsstatistik viel zu hohe Bedeutung zumessen, auch Londoner Finanzkreise schuldig, die in den letzten Wochen Pfunde massiv in Gold oder harte Währungen tauschten. Die Verstaatlichungspolitik der Regierung tat ein übriges, um das Mißtrauen zu vertiefen. Jedenfalls mußten die Sozialisten ihre Hoffnung auf eine expansive Wirtschaft, die sie den Wählern versprochen haben, vorläufig begraben und in einer wirtschaftspolitischen Niederlage, die einem Waterloo oder Dünkirchen vergleichbar ist, dem Land die schärfste Deflation seit 1931 aufbürden.

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