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Die Demokratie des Betriebes

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Der folgende Aufsatz, der vom Autor selbst als ein Projekt verstanden wird, als ein Vorschlag, neue Wege zu gehen auf einem Gebiet, das sichtlich neuer Versuche, ja Experimente bedarf, um aus alten, verfahrenen Geleisen befreit zu werden, wird von der „Oesterreichischen Furche“ zur Diskussion gestellt in der Hoffnung, daß sich aus dem Widerhall der Partner und Interessierten eine neue Wirklichkeit erarbeiten läßt. Die „Furche“.

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Der folgende Aufsatz, der vom Autor selbst als ein Projekt verstanden wird, als ein Vorschlag, neue Wege zu gehen auf einem Gebiet, das sichtlich neuer Versuche, ja Experimente bedarf, um aus alten, verfahrenen Geleisen befreit zu werden, wird von der „Oesterreichischen Furche“ zur Diskussion gestellt in der Hoffnung, daß sich aus dem Widerhall der Partner und Interessierten eine neue Wirklichkeit erarbeiten läßt. Die „Furche“.

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Bei den österreichischen Wahlen im Februar 1953 trat das im übrigen flüchtige Wahlbündnis zweier Mittelparteien unter dem Titel „Soziale Erneuerungsbewegung“ auf. Man tat dies natürlich in der Absicht, damit ein Stichwort der Zeit, ein Losungswort unserer Lage zu treffen. Nun ist die soziale Erneuerung nicht bloß die Parole einer liberalen Mitte, sondern auch die der christlichen wie der nationalen Rechten und der marxistischen Linken. Es geht damit fast wie mit der Europäischen Einigung: Alle wollen sie, alle wünschen sie, aber alle stellen sich darunter etwas anderes vor. Und diese allgemeine Verwirrung hat denn auch jener Wahlgruppe nur einen recht bescheidenen Erfolg verschafft. Man traute ihr nicht mehr und nicht weniger zu als den anderen und größeren Parteien auch, und ließ es so unausgemacht, woher die Erneuerung kommen soll. Eines bleibt jedoch außer Zweifel: daß die Aufgabe dieser Erneuerung nämlich auch nach dem Ausgang von mehr oder minder bedeutenden Wahlen weiterbesteht.

Es hat zu allen Zeiten der Kulturgeschichte ausgegliederte Stände gegeben: den geistiggeistlichen, den kriegerisch-ritterlichen, den bürgerlich-gewerbetreibenden, den ländlichbäuerlichen und den durch die Technik erst ganz entwickelten des industriellen Arbeiters. Aber von diesen nebeneinander lebenden Ständen trat hintereinander auch immer einer nach dem anderen hervor und bestimmte den Geist der Zeit: um 1000 der Geistliche, um 1300 der Ritter, um 1800 der Bürger und heute tritt nun der Arbeiter seine Epoche an.

In der „sozialen Frage“, die uns beschäftigt, ist nun das historische und das ständische Problem fast unlösbar miteinander verschlungen. Dennoch wird man sie unterscheiden müssen, um zu klaren Definitionen zu kommen. Dies um so notwendiger, als in unserer Zeit fast jeder Stand Arbeitscharakter entwickelt, wie früher ein jeder geistliche, ritterliche oder bürgerliche Züge annahm.

Nun erheben sich also die Fragen: haben wir mit dieser Unterscheidung recht? Oder war die ganze soziale Revolution ein Irrtum, zumindest eine Uebertreibung, weil es sich in Wirklichkeit nur um einen ständischen Interessenausgleich handelte? Oder ist sie etwa mißlungen, weil sie von ihren marxistischen Trägern verfehlt oder gar verraten wurde? Oder ist sie am Ende gar gleichsam unvermerkt schon gelungen, indem sie einigen Arbeiterparteien in die Regierung verhalf? Sind wir nur ewig Unzufriedene, weil wir mit ihrem natürlichen Ablauf, mit dem konkret Erreichten, mit der schon vollzogenen Wandlung noch immer nicht zufrieden sind?

Oder jedoch — und dies ist die Hauptfrage! — ist sie etwa nur steckengeblieben und harrt eines neuen Anstoßes? Sind wir vielleicht in einem Zwischenstadium, in dem ein erster Abschnitt erreicht ist und ausläuft, während ein zweiter erst ansetzt?

Betrachten wir die Parteisozialisten. Man wirft ihnen heute, da sie entweder als Regierungsparteien oder als machtvolle Oppositionen bedeutenden Einfluß ausüben, einerseits vor, daß sie Immer noch zu doktrinäre und obstinate Marxisten seien; anderseits wieder, daß sie verbonzt und verbürgerlicht seien. Solchen Angriffen brauchte man keine besondere Bedeutung zuzumessen. Wichtiger scheint uns jedoch, daß diese Parteien auf ihrem Wege zur Macht, aus ihrem marxistischen Ansatz nur zwei Grundsätze ganz entwickelten, die allmählich alles andere verschlangen: die Verstaatlichung und den Plan.

Sie haben im Verlauf ihres Klassenkampfes zwar dort, wo sie an die Herrschaft gelangten, den bürgerlich-individuellen Kapitalisten entmachtet, aber sie haben dann seine Macht, die Kontrolle der Produktionsmittel, dem staatlichen Kollektivfunktionär in die Hände gegeben. Das taten die Nichtkommunisten ebenso wie die Kommunisten.

Nur war mit dem Gradunterschied der Radikalität auch die Enttäuschung verschieden, als sich nun zeigte, daß das Kapital damit nur in andere Hände gegeben, aber in seiner Struktur nicht verändert war. Wo es durch eine politische Demokratie kontrolliert wurde, gewann der Arbeiter dabei zwar alle jene

Rechte und Vorteile, die er vorwiegend (nicht ausschließlich) den sozialistisch getragenen Gewerkschaften verdankt. Wo diese Kontrolle jedoch wegfällt oder aussetzt, dort zeigt sich dann, daß das Kollektivkapital, dem er sich mit der Verstaatlichung in die Hände gab, viel grausamer und erdrückender ist als das individuelle. Bestürzt merkt nun der Arbeiter: dieser Leviathan ist offenbar nicht die neue Gemeinschaft, für die er gekämpft hat.

Diese Reaktion wird einmal das, was bisher erreicht ist, nicht verleugnen und nicht verkleinern. Sie wird dem Marxismus bisher in seiner soziologischen Funktion als jene Kraft verstehen, die vor allem den ersten Abschnitt der sozialen Revolution bestimmte. Sie wird nicht antimarxistisch sein, sondern mit der größten Unbefangenheit Marx unter die Stiftergestalten der modernen Arbeiterbewegung aufnehmen, ohne ihn deshalb zum Dogma zu machen.

Die Mitbestimmung stellt insofern auch nur eine Stufe auf halbem Wege dar, als sie zuviel und zuwenig tut. Indem sie dem Betrieb nur die Hälfte des Einflusses einräumt, schließt sie einerseits den Eigentümer als Betriebsführer von der Gemeinschaft aus, verwirklicht sie also nur halb, behindert anderseits aber jede entschlossene und kühne Be-

triebsführung durch ein Mitspracherecht im Einzelfall, das in Wirklichkeit nur ein Dreinreden, einen Hemmschuh der Führung darstellt.

Die Bedenken, die sich dagegen erhoben, waren also nicht gänzlich unbegründet. Alles darüber hinausgehende wird nun natürlich erst recht als phantastisch und doktrinär, zum mindesten als „Bolschewismus“ angesehen.

Und wirklich könnte niemand verantworten, wenn man die neue Struktur unserer Arbeitswelt etwa dadurch herzustellen gedächte, daß man eines Tages ein noch so sorgfältig vorbereites neues Gesetz verkündete. Solche Gesetze sind immer erst der Ab-schlußakt von vollzogenen Wandlungen. Wir aber stehen noch mitten im Experimentierstadium. Um dem Arbeiter der marxistischen Aera sein Klassenbewußtsein zu geben, hat es Generationen langer Erziehung und ungezählter Versuche bedurft. Nun, das Bewußtsein der Betriebsgemeinschaft im modernen Arbeiter hat sich mit Kriegen, Krisen und Kämpfen schon angesetzt, es tritt an allen entscheidenden Wendepunkten hervor; aber es ist noch keineswegs so ausgebildet, daß es etwa bereits als fertiger Körper nach Art der Gewerkschaften dastünde.

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