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Der Hunger der Satten

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Die Sozialistische Partei Oesterreichs hatte 1932 648.497 Mitglieder, 1954: 660.373.

Im Vergleichszeitraum sind erhebliche bevölkerungsmäßige und berufsstrukturelle Verschiebungen eingetreten: Da ist zunächst der Anteil der bäuerlichen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung stark abgesunken. Auf der anderen Seite haben Industrialisierung und Verstädterung (auch des Dorfes) beträchtliche Fortschritte gemacht. Ferner wurde die jüdische Bevölkerung, die fast durchweg im Lager der Sozialisten gestanden war, bis auf einen kümmerlichen Rest dezimiert. Schließlich konnte die KP fast den ganzen linken Flügel der Sozialdemokraten an sich ziehen.

Die Sozialisten haben nicht vermocht, sich die gleiche Vorherrschaft in jenen Berufsgruppen zu erhalten, die sie ehedem fast ohne Konkurrenz repräsentierten. Wäre es so, dann müßten sie

— trotz des Ausfalles ihres jüdischen Anhanges —, mit Rücksicht auf die berufliche Gliederung, eit Jahren schon die politische Mehrheit haben.

Im Jahre 1932 waren von den Wählern der SPOe 42,74 Prozent Parteimitglieder, 1949 waren es noch 37,84, 1954 nur noch 36,64 Prozent. Diese Ziffern zeigen, daß viele Wähler, vor die Wahlentscheidung gestellt, die Sozialisten als das „kleinere Uebel“ betrachten, sich aber nicht binden wollen; weiter, daß es den Sozialisten offensichtlich gelungen ist, gesellschaftliche Randsehichten (Unternehmer, Intellektuelle, Halbbauern) im . Austausch gegen Arbeiter, die nach ganz links oder zur OeVP abgingen, zu erfassen. In Vorarlberg waren von 100 Wählern der SPOe nur 14,28 Prozent bei der Partei.

Welchen Entwicklungstrend“ kann man daraus für die SPOe ablesen? Vor allem einen Vorstoß in die aufgeweichte Schichte des Mittelstandes, dessen Angehörige wirtschaftlich durch das Büro Waldbrunner (Oesterreichs beste Stellenvermittlung) verpflichtet werden oder

— mangels einer liberalen Partei — im Sozialismus noch eine Chance für die Durchsetzung antichristlicher altliberaler Ideen sehen. Ferner: In seiner klassischen Einflußsphäre hat der Sozialismus bezeichnende Einbußen erlitten. So ist der Mitglied erstand in Niederösterreich vom 1. Jänner 1954 bis zum 31. Dezember 1954 von 122.733 auf 120.281 und in Wien von 291.891 .'“f 291.672 abgesunken. Dagegen vermochten die Sozialisten in der Steiermark ihre Mitgliederzahl ganz beträchtlich von 90.070 auf 97.020 zu erhöhen. Schließlich: Die Eroberung des Dorfes (wenn man darunter die Gewinnung des Bauernstandes meint), ist vorläufig zum Stillstand gekommen. Im Jahre 1947 waren von den Parteimitgliedern noch 3 Prozent Bauern, 1951 1,8 Prozent und 1954 nur noch 1,4 Prozent. In diesen Ziffern zeigt sich auch die Ent-politisierung des Bauernstandes, der, politisch vielfach apathisch und zum Farmer geworden, weitgehend nur-wirtschaftlich und nicht mehr ständisch-politisch denkt.

Wahrsagerei in politischen Dingen ist riskant: man kann nämlich beim Wort genommen werden! Das gilt ganz besonders für Wahlprognosen. Der Wähler entscheidet sich nicht allein aus Gesinnung (wenn er sich einer solchen bewußt werden kann, wozu Intelligenz gehört), sondern vielfach aus Laune. Wenn wir auch keineswegs französische Verhältnisse haben und nicht das Entstehen einer Partei der Gesinnungslosen befürchten müssen, wird doch die nächste Wahl von denen entschieden werden, die sich als un-und überparteilich geben. Vor allem muß der Solialismus Menschen, die früher im Einflußbereich des Sozialismus gestanden sind, vor jeder Wahl neu gewinnen.

Offensichtlich ist nun der Sozialismus in Oesterreich in seinem Wachstum zum Stillstand gekommen. Ein Tatbestand, der keineswegs in einem Wahlergebnis zum Ausdruck kommen muß. Dieser Stillstand ist auf verschiedene Ursachen zurückzuführen: auf die obenerwähnte Parteimüdigkeit, welche die SPOe mehr berührt als etwa die OeVP, die eine Wählerpartei ist, also nur im Zusammenhang mit einer Wahl aktiv bis in die letzten Untergliederungen wird. Ferner ist der Sozialismus in Oesterreich nicht mehr Hoffnung, sondern Gegenwart, wenn nicht Vergangenheit (in der Form des Austromarxismus). Die hohen Ideen des Sozialismus hatten schon die Feuerprobe der Bewährung zu bestehen. Die Forderungen, die einst die Sozialisten gestellt hatten, müssen sie nun selbst durch ihre Repräsentanten erfüllen oder ablehnen. Je mehr schließlich der Sozialismus an die Macht gekommen ist, um so stärker sind Sozialisten in Unlernchmer-funktionen eingerückt. Dadurch sind die Sozialisten für die „arbeitenden Massen“ Vertreter der Gegenklasse, wenn es auch die „Bürgerlichen“ meisterhaft verstehen, den Unwillen der Arbeiterschaft auf sich zu lenken, indem sie für alles, was wie Kürzung von Wohlfahrt der Arbeitnehmer aussieht, die volle Verantwortung übernehmen, um nur ja nicht den Verdacht der Arbeiterfreundlichkeit auf sich zu ziehen.

Marx ist in seiner prophetischen Sicht der künftigen Entwicklung des Kapitals davon ausgegangen, daß die kapitalistische Wirtschaftsweise die Bedingungen ihrer Liquidation in sich trage. Im Prinzip hat Marx mit dieser Vorhersage recht gehabt. Der klassische Kapitalismus hat sich selbst ad absurdum geführt. Der Versuch, freie Wirtschaft mit dem System der Monopolisierung der Wirtschaft zu verbinden, konnte nur zu jenem Mischsystem führen, das mit dem „freien Wettbewerb“ kaum mehr als den Namen gemeinsam hat.

Nun ist es aber so, daß auch der Marxismus, wie jede Idee, die sich im politischen Raum zu verwirklichen sucht, die Bedingungen seiner Auflösung in sich trägt. Was am Marxismus Glaube war, ausgedrückt in jenem sozialreformatorischen Pathos, der dem Marxismus die Massen zuführte, ist weithin durch Interessen überdeckt. Je mehr Verstaatlichung, desto weniger sozialistischer Glaube. Wer noch glaubt, steht da als reiner Tor, so etwa wie ein christlicher Sozialreformer, der vor liberalen Industriellen seine Ideen zum Beispiel vom Miteigentum entwickeln wollte.

Wo die Sozialisten an der Verantwortung und dadurch an der Macht sind — sei es als Generaldirektoren, Aufsichtsräte oder bescheidene Generalratsmitglieder einer Notenbank —, haben sie meist das Gehaben der klassischen Vorbilder angenommen und annehmen müssen, sei es in Kleidung oder nur in den Gesten. Was man einem bürgerlichen Generaldirektor verzeiht, wird aber bei einem sozialistischen Generaldirektor nicht gelitten.

Mit der Verstaatlichung wächst unvermeidlich die Verbürgerlichung jener Schichte von Sozialisten, die in Verwalterstellen aufgerückt ist. Wie immer sich die Verbürgerlichung zeigt, im Auto und dem „eigenen“ Chauffeur, im höheren Einkommen oder im Leibesumfang — ihre Zeichen werden übel aufgenommen. Es zeigt sich eben, daß der Wohlfahrtsstaat in Staat mit gestufter Wohlfahrt ist. Die politischen Eliten haben eine ganz andere Wohlfahrtschance als die Angehörigen jener Gruppe, die man in der orthodoxen marxistischen Litanei als „arbeitendes Volk“ angerufen hat.

Es wird immer so etwas wie den Klassenkampf geben. Nur der Name und die Stärke werden wechseln. Wo eine geistig und wirtschaftlich reife Gesellschaft ist, wird es ohne Auseinandersetzungen zwischen den Interessentengruppen kaum gehen. Wenn nun die sozialistischen Verwalter in die Position von Unternehmern einrücken, dann mögen sie noch so sehr auf ihre niedrige Mitgliedsnummer hinweisen, sie werden stets als Angehörige der Gegenklasse betrachtet werden. Das Interesse wird vom Routinegegner abgelenkt und in die SPOe so etwas wie ein Klassenkampf hineingetragen, der dadurch auch zu einer innersozialistischen Angelegenheit wird, wie dies bei der OeVP schon seit ihrer Gründung der Fall ist, ja zu den Bedingungen ihrer Existenz gehört.

Weil nun die Forderungen der Arbeitnehmer sich auch gegen die von Sozialisten geführten Unternehmungen richten, ist man in den Forderungen vorsichtiger geworden. Denn mehr Lohn heißt mehr an Kosten in den der SPOe nahestehenden Unternehmungen. Das Spiel, nur bei den „bürgerlichen“ Kapitalisten zu fordern, den sozialistischen Unternehmer aber auszulassen, wurde von den Wiener Straßenbahnern durchschaut, die nicht einsehen wollten, warum es ihnen verwehrt sei, vom Genossen Stadtrat ebenso eine Lohnerhöhung zu fordern wie ihre Parteigenossen vom „bürgerlichen“ Unternehmer.

Es zeigt sich daher, daß der Sozialismus als Glaube und als Vertretung der Interessen der Arbeiterschaft nur in der Demokratie und (was noch wichtiger ist) in einem System bestehen kann, das man als Privateigentumsordnung kennzeichnet. Je mehr der Sozialismus die Bedingungen seines Bestehens — die Privatwirtschaft — aufhebt, um so mehr fördert er seine eigene Liquidation.

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