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Gott in Frankreich — heute

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„Die Christen trennen Religion und Leben. Von der Wiedergewinnung der Arbeiterschaft kann überhaupt nicht gesprochen werden. Ist sie der Kirche etwa venlorengegan- gen? Im Gegenteil, sie entwickelte sich außerhalb ihrer Strukturen. Der Industriearbeiter wird von dem katholischen Gläubigen als-ein Mann beurteilt, der, im materialistischen Denken versunken, alle Mittel und Methoden des Kampfes anwendet, um Vorteile zu erreichen. Der Arbeiter — meinen die Gutgesinnten — denkt an den Klassenkampf. Diese Christen wünschen eine Veränderung der Lebensbedingungen der Arbeiter; sie wagen keine Geste, um diese zu verwirklichen. Wen interessieren die kollektiven Aspirationen der Arbeiter? Was weiß der Bürger, wie der Katholik unter den atheistischen Arbeitskollegen lebt?“

Der Redner blickte seine Gefährten an; die Leiter der katholischen Arbeiterbewegung trafen eben die Bischöfe, die in der Kommission für die Welt der Arbeit einige Male den Arbeitervertretern begegnen. Sicherlich ist die katholische Arbeiterbewegung (ACO) zusammen mit den Bauern der aktivste Teil der Katholischen Aktion.

Der Sprecher geht dazu über, die Bedingungen aufzuzählen, unter denen die arbeitenden Massen derzeit leiden. Die Schließung zahlreicher Fabriken fördert die offene und schleichende Arbeitslosigkeit.

„Wir warten, daß die Kirche dazu eindeutig Stellung nimmt.“ Alle anwesenden Delegierten betonen diesen Wunsch. Sie kämpfen seit langem um eine Deflnierung der christlichen Arbeiterbewegung. Die Abgeordneten wissen, daß die derzeitige Struktur des Landes eine nachhaltige Veränderung im sozialen Sektor verhindert. Die Methoden der Technik, die Verschiebung der Standorte, die gesteigerte Rationalisierung stellen ebenso Probleme wie die Freizeitgestaltung und der Einfluß von Massenmedien.

Am nächsten: der ungläubige Kamerad

Die ACO ging aus der IOC hervor. Die katholische Arbeiterbewegung gewinnt in erster Linde Ehepaare, ohne die Unverheirateten systematisch auszuschließen. Die Bewegung fordert, daß jedes Mitglied für den Aufstieg der arbeitenden Menschen edntriitt. Die Teilnahme an der gewerkschaftlichen Tätigkeit wird begrüßt. Sehr oft erwachsen Verantwortungen in den verschiedenen Gewerkschaften, mit Ausnahme der kommunistischen CGT. Die Gruppen, auf der Ebene des Betriebes oder des Bezirkes entstanden, treffen einander einmal dm Monat. Sie stellen Überlegungen an, wie sie als Christen ihr Leben ändern und ein echtes Apostolat einleiten. Aber die Mitglieder der katholischen Arbeiterbewegung sind bestrebt, ihre Existenz mit den übrigen Arbedtskameraden zu teilen. Sie betonen, daß sie überzeugte Arbeiter sind, ihnen der ungläubige Kamerad am nächsten steht und pflegen die Tugenden einer Klasse, die von den allgemeinen Gütern der Nation teilweise ausgeschlossen wurde.

Die Mitglieder der ACO erleiden mit ihren Gefährten die gleiche materielle und kulturelle Not. Sie wissen, daß derzeit ihr Wort wenig gehört wird, und anerkennen, daß die verschworene Solidarität der Arbeiterklasse abseits philosophischen Erörterungein eine sichere Erlösung bringt. Diese kann in einem Klassenkampf erfolgen, und die Arbeiter der ACO sind von der Notwendigkeit überzeugt, daß die geballte Kraft der arbeitenden Menschen auf die bisherige Institution der Gesellschaft zu drücken habe. Die AOO fordert eine Verteilung der Verantwortung im Wirtschaftsleben und wünscht, an sämtlichen kulturellen Bestrebungen der Nation teil- zunetomen. Warum, wird erbittert festgesteldt, erschwert man Söhnen und Töchtern aus dem Arbeiterstand eine höhere Schulbildung? Es fehlt an großzügigen Stipendienaktionen, die es ermöglichen, daß mehr als fünf Prozent von Kindern aus dem Arbeiterstand die Hochschulen 'besuchen.

Von allen Bewegungen der Katholischen Aktion definiert die ACO in ihren 2300 Equipen und den 30.000 Mitgliedern am schärfsten die Gefahren und Aufgaben der modernen Industriegesellschaft. Die bisherigen traditionellen Werte und Einrichtungen 'Sind überholt, und der gewisse Egoismus der Arbeiterschaft auf der anderen Seite weicht einer großzügigeren Sicht.

Im Februar 1966 wurden diie Reflexionen über die wirtschaftliche und soziale Situation der Gegenwart von einer besonderen Konferenz mit Zustimmung des ständigen Rates des französischen Episkopates veröffentlicht, die weit über die Grenzen Frankreichs hinaus eine Neuorientierung der Kirche anzeigen.

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