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Es ist noch nicht zu spät!

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Der untenstehende Beitrag gewinnt im Hinblick auf die große Streikbewegung, die in diesen Tagen die 'Scheinruhe in Frankreich wieder abgelöst hat, seine besondere Bedeutung.

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Der untenstehende Beitrag gewinnt im Hinblick auf die große Streikbewegung, die in diesen Tagen die 'Scheinruhe in Frankreich wieder abgelöst hat, seine besondere Bedeutung.

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In zwei vielbeachteten kritischen Betrachtungen hat der spanische Mitarbeiter der „Furche“ (vgl. „Die Straße der bitteren Oliven“, 23. Mai 1953, und „Hort der Bedrängten“, 1. August 1953) den Finger auf die brennendste Wunde Spaniens, das ungelöste Sozialproblem, gelegt. Daß es damit auch bei seinem nördlichen Nachbar, Frankreich, nicht zum besten bestellt ist, ging u. a. aus einem Bericht der „Furche“ (Nr. 30) über die Versteifung des Verhältnisses der französischen Gewerkschaften zur Regierung hervor. Hier wie dort hat die Kirche die ernste Gefahr früh erkannt und sich u. a. durch zwei bedeutende spanische Enunziationen, die „Soziale Wache“ von Cordoba und den Hirtenbrief des Erzbischofs von Valencia, wahrhaftig als „Hort der Bedrängten“ erwiesen.

Nun erreicht uns über Zürich („Orientierung“) die Nachricht von einer gleichen Aktion des französischen Episkopats.

Auf Veranlassung der Versammlung der französischen Kardinäle, und Erzbischöfe wurde 1952 in sämtlichen Diözesen Frankreichs eine Untersuchung über die soziale Lage in Angriff genommen. Mon-signore Richaud, der Präsident der bischöflichen Kommission für karitative Werke und soziale Einrichtungen, hat vor einiger Zeit in einem sehr ausführlichen Bericht, der als Grundlage für ein Hirt enschreiben über die soziale Frage dienen soll, seinen Mitbrüdern das Ergebnis dieser Untersuchung vorgelegt. Er wurde bisher noch nicht veröffentlicht; lediglich in der „Se-maine religieuse“ von Rennes erschien nachstehende Zusammenfassung.

Nach einer Prüfung der wichtigsten Aspekte der sozialert Mißstände (Existenz des Proletariats, seine Arbeitsbedingungen, seine Unterhaltsmittel; Entwicklung des Mittelstandes und der Gewerbetreibenden; Lage der Kleinrentner und der wirtschaftlich Schwachen; Stellung der Frau in der heutigen Gesellschaft; Wohnungs-, Gesundheits-, Freizeit- und Lehrlingswesen; Lage der Landbevölkerung, Landflucht, Einwanderung u. a.) behandelt der Bericht die sozialen Tendenzen in den verschiedenen gesellschaftlichen Schichten.

Bürgerliche und Unternehmerkreise in Frankreich sind zwar gewiß bestrebt, die menschliche Freiheit zu verteidigen und die Bedrohung durch Etatismus und Kommunismus zu überwinden, aber die Haupttriebfeder ihrer Aktivität bleibt der Profit. Sämtliche Berichte sind sich einig über eine „V e r-steifung des Unternehmertums“, die sich zum Teil durch den Kapitalmangel der Unternehmen “und die daraus sich ergebende ständige Unsicherheit erklären mag. Gegen Forderungen der Arbeiterschaft — oft auch gegen berechtigte •—■ verhalten sich die meisten Unternehmer ablehnend, vor' allem dann, wenn diese Forderungen in einem Klima des Kampfes vorgebracht werden.

Insbesondere sirld sich die Unternehmer verhältnismäßig wenig klar darüber, welches Mißverhältnis zwischen ihrem eigenen Lebensstandard und dem ihrer Arbeiter besteht. Sie sehen nicht, daß gerade Komfort und Vermögensbesitz sie an einer klaren Erkenntnis der Probleme hindern. Nur allzuoft fehlt es an christlicher Lebensauffassung und Großzügigkeit. Die Soziallehren der Kirche sind kaum bekannt; die Idee eines beruflichen Sozialdienstes ist wenig verbreitet.

Man hat' immer weniger Verständnis für den Begriff des „gerechten Preises“, und- die Gewinnspannen - werden immer größer. Von einer Entwicklung der Betriebe auf eine Gewinnbeteiligung der Arbeiter oder eine gewisse Mitbestimmung hin ist kaum mehr die Rede, vor allem nicht in der Privatindustrie. Man kann zwar nicht von einem „kämpferischen Unternehmertum“ sprechen, aber 'die Verständnislosigkeit der Unternehmer versteckt. sich hjnter den beiden Ideen von der Verteidigung der Freiheit und der Verteidigung der Autorität.

Unter den Lohnarbeitern herrscht ein Klima des Klassenkampfes. Die meisten Arbeiter machen aus dem Klassenkampf keine politische Doktrin, sondern stellen ihn einfach als gesellschaftliche Tatsache fest. Sie sind der Auffassung, daß schon aus dem bloßen Vorhandensein kapitalistischer Strukturen sich ein Interessengegensatz zwischen Arbeitgebern

und Arbeitnehmern ergibt, und daß sie, um ihre Lage zu verbessern, stets Gewalt anwenden mußten.

Wenn der Bericht von einem „Klima“ spricht, will er damit sagen, daß es sich hier um eine Erscheinung kollektiver Psychologie handelt, die mehr von Emotionen als von intellektuellen Analysen bestimmt wird. Das gilt auch für die christlich inspirierten Organisafionen.

Der Zustand einer gewissen Müdigkeit bei der Arbeiterschaft darf nicht zu falschen Schlußfolgerungen verleiten; vielleicht gibt es schon morgen ein sehr heftiges Erwachen. Fast alle Lohnempfänger fühlen sich als Opfer einer organisierten Ungerechtigkeit. Sie stellen fest, daß sie bei der augenblicklichen Verteilung der Güter um einen Teil der ihnen zustehenden Gewinne betrogen werden. Denn sowohl die individuellen Löhne wie die Gesamtlohnsumme einschließlich der Zulagen (Sozialversicherungen und Familienbeihilfen) liegen proportioneil unter dem Vorkriegsniveau; ihre Kaufkraft hat abgenommen, während gleichzeitig das Nationaleinkommen gestiegen ist... Die Arbeiter glauben, ein gewisses Recht auf ihre Betriebe zu haben, das aber die heutige Gesellschaft nicht anerkennen will.'

Gewisse Anzeichen deuten indessen darauf hin, daß die Ueberzeugung der Arbeiterschaft mehr ist als der bloße Reflex: „Verschwinde du, damit ich deinen Platz einnehmen kann.“ Die Beseitigung der Klassenunterschiede bedeutet nicht eine brutale Ausplünderung der Besitzenden. Es muß sogar betont werden, daß die mißliche Lage der Arbeiterschaft nicht in erster Linie ein Lohnproblem ist. Es handelt sich um ein tieferes, ein eigentlich measch 1 iches Problem mit einem echt spirituellen Aspekt. Das sehr klare Bewußtsein von den

menschlichen Möglichkeiten, die ihnen versagt sind, nährt bei den Arbeitern das ungeduldige Verlangen nach einer Reform der Strukturen. Die Arbeiterschaft glaubt eher an< eine Reform der Strukturen als an eine solche der Sitten. Das Vertrauen auf den Sozialismus bleibt dabei unvermindert. Die Bestrebungen tendieren mehr zu einer Revolution durch Gewalt, als zu einer Revolution durch Uebereinkunft...

Der Bericht zeigt mit aller Deutlichkeit, welchen Grad die soziale Spannung in ganz Frankreich bereits erreicht, hat. Angesichts dieser Situation unterstreicht er die geringe Aufgeschlossenheit eines bedeutenden Teils des Klerus gegenüber dem Ernst und der religiösen Tragweite der sozialen Probleme. Viele Priester verfügen über keine andere soziale Bil-

dung, als ihre Tageszeitung sie ihnen bietet. Entweder fehlt es ihnen an den Mitteln, um zu den Quellen zu gelangen, oder sie ziehen eine tendenziöse Vulgarisierung der persönlichen Arbeit vor.

So kommt der Bericht zu der Schlußfolgerung, daß die Mittel der Bildung von Klerus und Laien intensiviert und weiterentwickelt werden müssen. Er glaubt, daß sie in den Organisationen der Katholischen Aktion am besten mit den konstruktiven Aufgaben innerhalb der menschlichen Gesellschaft vertraut gemacht und zu einer wahrhaft apostolischen Haltung erzogen werden können.

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