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Digital In Arbeit

Die Ausgebeuteten

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Als Karl Marx vor rund hundert Jahren das kapitalistische System einer vernichtenden Kritik unterzog, entwickelte er dabei unter anderem auch die sogenannte .Mehrwerttheorie“, wonach der Kapitalist dem Arbeiter bloß den zur Sicherung des Existenzminimums notwendigen Mindestlohn bezahle, den »Mehrwert“ der Arbeit dagegen in seine Tasche stecke. Die kapitalistische Erzeugung beruhe daher auf der Aneignung unbezahlter Arbeit, auf der Ausbeutung des Arbeiters.

Diese Theorie, deren Richtigkeit schon vor einem Jahrhundert heftig bestritten wurde, hat jedenfalls für unsere Zeit keine Gültigkeit mehr, da inzwischen der Arbeiter zu einem freien Mitglied der Gesellschaft und zu einem machtvollen Mitspieler in der staatlichen Politik aufgestiegen ist und daher nicht mehr als hilfloses Ausbeutungsobjekt einer übermächtigen .Bourgeoisie“ angesehen werden kann.

Gegenüber der Zeit vor hundert Jahren hat überhaupt die gesamte Sozialstruktur eine völlige Wandlung erfahren, die sich namentlich zum Nachteil des zwischen der Klasse des kapitalistischen Unternehmertums und der großen Masse der Arbeiterschaft stehenden bürgerlichen Mittelstandes auswirkte. Besonders hart wurde durch diese Entwicklung das gebildete Bürgertum betroffen, dessen wirtschaftliche Situation sich immer mehr verschlechterte, als im Verlaufe der durch zwei Weltkriege hervorgerufenen Wirtschaftskrisen zwischen den beiden großen Fronten des Unternehmertums und der Arbeiterschaft ein hartes Ringen um den Anteil- am Sozialprodukt begann. Dies gilt namentlich für Österreich, wo • die materielle Not des geistigen Mittelstandes nach den fünf Lohn- und Preisabkommen bestürzende Ausmaße angenommen hat.

Der Anteil am Sozialprodukt, der gegenwärtig bei uns' dem geistigen Arbeiter zugebilligt wird, ist gänzlich unzureichend und ungerecht. Oder ist es vielleicht billig, daß junge Ärzte, die unzähligen Menschen wieder zu neuer Gesundheit verhelfen, nach nahezu 20jähri-gem Studium eine geringere Entlohnung als ungelernte Hilfsarbeiter erhalten? Unser Österreich besitzt wissenschaftliche Fachkräfte ersten Ranges, die heute zur Abwanderung gezwungen sind, und Künstler — Maler, Bildhauer, Schriftsteller, Schauspieler, Musiker —, die geradezu als Stoßtrupps eines neuen Proletariats gesehen werden müssen. Sie alle dienen auf ihre Weise dem Staate um einen Lohn, den jeder bessere Facharbeiter als unangemessen zurückweisen würde; sie erhalten also auch nicht annähernd jenen Gegenwert, der ihrer geistigen Leistung entspräche. Nicht besser steht es meist um den Erfinder einer wertvollen technischen Neuerung, der nicht selten im Elend zugrunde geht, während zahllose Arbeiter die Vorteile seiner Erfindung genießen und die Unternehmer aus ihr bedeutenden finanziellen Nutzen ziehen. Die allgemein bekannte Tatsache der Unterbezahlung unserer Lehrkräfte sei gar nicht mehr erwähnt, wie sich ja überhaupt die Reihe der um ihren gerechten Lohn betrogenen geistigen Arbeiter noch lange fortsetzen ließe. So feiert Marxens Mehrwerttheorie heute fröhliche Urständ', bloß mit dem Unterschiede, daß nicht die Arbeiterschaft, sondern das gebildete Bürgertum das Objekt allgemeiner Ausbeutung geworden ist!

Richtig hätte darum gegenwärtig auch der Mittelstand im Brennpunkt der sozialen Frage zu stehen. Wenn dies bisher noch nicht allgemein erkannt wird, ist es vor allem darauf zurückzuführen, daß den betroffenen Kreisen ein Kollektivbewußtsein und Erleben ihrer sozialökonomischen Existenz weitgehend mangelt; es haben aber auch die übrigen Gesellschaftsklassen von der ungeheuren Not des gebildeten Bürgertums keine rechte Vorstellung, zumal die Angehörigen des geistigen Mittelstandes ängstlich bemüht sind den Schein einstigen Wohlstandes sorgsam zu wahren und schamvoll ihre zerschlissenen Hemden und Kleider unter weißen Ärztekitteln und schwarzen Richtertalaren zu verbergen.

Hieraus ergeben sich freilich auf die Dauer schwerste Gefahren für das Gemeinschaftsleben: mit der Lebenshaltung sinkt nämlich nicht nur das Leistungsniveau, sondern es schwindet auch allmählich das Pflicht- und Verantwortungsbewußtsein, so daß das Gespenst der Korruption bald allenthalben herumgeistert.

Auch mögen die Verantwortlichen im Staate das Mittelstandsproblem nicht deshalb gering schätzen, weil anscheinend nur ein verhältnismäßig kleiner Bevölkerungsteil, dem die Lautstärke der Masse fehlt, durch die geschilderte Entwicklung betroffen wird. Es geht hier nicht um die große Zahl, nicht um Quantität, sondern um Qualität, und letzten Endes um die Existenz der nach wie vor staatstragenden Gesellschaftsschicht. Hier darf das einzelne Haupt nicht nur gezählt, sondern muß gewogen werden, wenn die volle Bedeutung der Frage in ihrem ganzen Umfang erkannt werden soll.

Das Ringen der geistigen Elite unseres Volkes um seine Existenz bedeutet aber zugleich auch den Kampf um Sein oder Nichtsein der echten Persönlichkeit. Durch die gegenwärtige Ausbeutung werden aber die Vertreter des geistigen Mittelstandes um ihre ursprünglichen Menschenrechte betrogen, da die bitterste Not sie an der entsprechenden Entfaltung ihrer Talente und somit ihrer Persönlichkeit hindert. Denn ohne materielle Unterläge ist geistige Kultur unmöglich. Um sich geistig betätigen zu können, muß man erst leben, gemäß dem alten Spruche: Primum vivere, deinde philo-sophari. Wo der Kampf um die nackte Existenz alle Kräfte des Menschen völlig in Anspruch nimmt, bleibt nichts mehr übrig für geistiges Schaffen.

Mit der schwindenden Aussicht, das Leben persönlich gestalten zu können, ist aber nicht nur die Existenz des einzelnen, sondern auch die des ganzen Volkes bedroht. Denn mit dem Tode der Persönlichkeit stirbt auch die Kultur. Einer solchen Entwicklung kann aber gerade das an materiellen Gütern arme Österreich niemals freien Lauf lassen; stellt doch „Kultur“ einen der wenigen Aktivposten unseres bescheidenen Volksvermögens dar. Soll darum der Wohlstand unseres Volkes erhalten bleiben, so muß endlich einmal mit der wahnwitzigen Ausbeutung des gebildeten Mittelstandes Schluß gemacht und den geistigen Arbeitern endlich wieder die Möglichkeit gegeben werden, auf entsprechender materieller Basis ihre Persönlichkeit und ihre Geisteskräfte zu entfalten.

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