6566447-1949_50_05.jpg
Digital In Arbeit

Klassen und Geschichte

Werbung
Werbung
Werbung

Die modernen Arbeiterorganisationen sind stolz auf ihre sozialen Errungenschaften, auf die Hebung des Lebensstandards der arbeitenden Menschen, der tatsächlich oft nur dem sozialen Kampfe zu danken war . Vielfach hat sich aber auch ohne einen solchen die Lebensform der Bauern und Arbeiter an die Fortschritte der Technik angeglichen, die eben ganz neue Möglichkeiten der Bedarfsdeckung mit sich brachte. Die Schwierigkeiten des äußeren Lebens jener Schichten, die man früher die „unteren“ nannte, haben nicht immer Böswilligkeit und Habgier der Besitzenden als Ursache gehabt. Auch in den Jahrhunderten, in denen es keine Gewerkschaften gab, ist das Leben allmählich für alle Stände leichter und bequemer geworden, es sei nur an die zunehmende Bauernbefreiung seit dem 12. Jahrhundert erinnert, die vor allem wirtschaftliche Gründe hatte. Mit den technischen Fortschritten sind die sozialen Bedürfnisse gestiegen, gleichzeitig wurde die gesellschaftliche Struktur geändert. Die von den modernen abweichenden wirtschaftlichen Bedingungen hatten zum Beispiel im Mittelalter und in der frühen Neuzeit andere gesellschaftliche Formen und eine andere Organisation verlangt, die aber deshalb nicht objektiv schlechter waren als die gegenwärtigen. Wahrhaft historisches Denken muß den relativen Funktionswert der Ge sellschaftsformen der Vergangenheit anerkennen!

Seit es den „Klässenkampf“ gab, wurden die geschichtlichen Gesellschaftsordnungen gerne angegriffen, in Gegensatz zu der als „fortschrittlich“ empfundenen Gegenwart gestellt. Das war um so leichter, da man vom täglichen Leben der Vergangenheit nur unzureichende und unklare Vorstellungen hatte. In der Schule hatte man nur von Kaisern, Königen, Adeligen und höchstens noch von Patriziern gelernt. Eine wissenschaftlich gut fundierte Klassen- oder Sozialgeschichte hat bedauerlicherweise bis zum heutigen Tage noch keinen Platz im Lehrplan. Nur allzuoft erscheinen daher Arbeiter und Bauer als Märtyrer der historischen Entwicklung, da man keine richtigen Maßstäbe hat. Es wird vergessen, daß in früheren Zeiten alle Bevölkerungskreise von Unzulänglichkeiten der damaligen Zivilisation betroffen waren, daß der zivilisatorische Standard eines Arbeiters in der Gegenwart in mancher Hinsicht höher ist als der eines früheren Adeligen. Noch zur Zeit Ludwigs XIV. froren die Herren und Damen des Hofes ganz jämmerlich in den großen Sälen des Schlosses von Versailles. Ein Arbeiter in einer Wiener Gemeindewohnung, der seine Badenische hat, übertrifft in diesem Punkte an Lebenshaltung Kaiser Franz Joseph noch in den siebziger Jahren. Die unteren Schichten entbehrten vieles, was die Oberschicht auch nicht besaß.

Es waren eben früher die Bedürfnisse vielfach anders als heute. Eine Geschichtsbetrachtung, welche die Vergangenheit an den Bedürfnissen und der Möglichkeit ihrer Befrie-

Die Anregung zu den folgenden Ausführungen gab die Lektüre des Buches von Karl Gvatter: Lang war der Weg und steinig... Vom sozialen Aufstieg der, österreichischen Arbeiterschaft, Verlag des österreichischen Gewerkschaftsbundes, Wien 1949.

digung in der Gegenwart mißt und darum gegen die Geschichte polemisiert, versündigt sich am Geist der Geschichte.

Was von den zivilisatorischen Ansprüchen gesagt wurde, gilt auch für die persönlichen und geistigen. Weil etwa das Mittelalter und die frühe Neuzeit einen anderen, und zwar keinen individualistischen Freiheitsbegriff hatten, spricht moderne Anmaßung gerne von der früheren „Unfreiheit“, ja „Sklaverei“ des dienenden Menschen, so als ob der heute Schaffende hundertprozentig „frei“ und nicht auch durch Abhängigkeiten eingeengt wäre! Kein Wort ist soviel mißbraucht worden und darum so vieldeutig wie das Wort „Freiheit“, das im Bereiche des Soziologischen meist nur einen Herrschaftswechsel bedeutet. Das moderne gesellschaftliche Leben kennt weniger die Herrschaft des einzelnen als die der Korporation oder der Organisation.

Ebensowenig wie der Bauer oder der Handwerker war der adelige Lehnsträger oder der Kleriker des Mittelalters „frei“ im Sinne des 19. Jahrhunderts. Die älteren Gesellschaftsschichten lebten alle in einer hierarchischen Unterordnung, die allerdings ihr Recht und ihre Sicherheit garantierte, sie beschützte. Die Herrschaft hatte vor dem Aufkommen des modernen Staates ihre sittliche Rechtfertigung im Schutze, da der Staat noch nicht imstande war, auf der ganzen Fläche seines Territoriums diesen auszuüben. Im frühen Mittelalter haben sich viele freie Bauern auch ohne Zwang in ein Abhängigkeitsverhältnis zu einem Grundherren begeben, weil es für sie vorteilhaft war, in einem mächtigen Schutzverbande zu leben. Als diese Voraussetzung immer mehr entfiel — in Frankreich zum Beispiel seit dem 12. Jahrhundert — hört auch die Untertänigkeit der Bauern allmählich auf. Der gelegentliche Mißbrauch des Herrschaftsverhältnisses darf uns nicht blind machen gegenüber dem tatsächlichen Funktionieren der früheren Gesellschaftsordnung. Adel und Kirche mußten im Mittelalter einen größeren Besitz und damit die materiellen Voraussetzungen haben, um ihre sozialen Pflichten erfüllen zu können, die ihnen erst der moderne Staat abgenommen hat.

Für Schutz und soziale Fürsorge wurde und wird immer gezahlt in irgendeiner Form. Auch im sozialistischen Staate muß der Arbeitende das Seine für die Bezahlung der sozialen Errungenschaften beitragen, der Staat kann nicht einfach „Wohltäter" sein, wie uns heute Labour-England vordemonstriert.

Vom historischen Standpunkt ist es daheę anfechtbar, aus gewissen tatsächlichen Unzulänglichkeiten des sozialen Lebens der Vergangenheit, die auf spezifischen, geistigen und technisch-wirtschaftlichen Voraussetzungen beruhen, Kampfmittel zur Durchsetzung eines anderen gesellschaftlichen Ideals, das wieder andere Prämissen hat, zu gewinnen.

Wo die Geschichte in ihrer Andersartigkeit nicht positive Parolen zu liefern vermag, tritt im sozialpolitischen Kampfe gerne eine gewisse Geschichtsfeindlichkeit auf.

Mit dem Durchdringen rein gesellschaftskritischer und polemischer Geschichtsbetrachtung würde aber der Arbeiter und Bauer in eine Kampfstellung gegen die Vergangenheit gedrängt. Die sozial extremsten Richtungen sind immer anti- oder ahistorisch, die Geschichte hat für sie nur insoferne Bewußtseinswert, als sie negativ den höheren Wert des neuen Gesellschaftsideals beweisen soll- Die letzte logische Schlußfolgerung wäre dann die gewaltsame, auch revolutionäre Beseitigung alles dessen, was „überholt“ ist, auch wenn es sich um Kulturwerte handelt.

So erfreulich es ist, daß die Gewerkschaften von sich aus bemüht sind, ihren Anhängern auch ein Geschichtsbild zu geben, so bedauerlich ist der geringe Kontakt der historischen Fachwissenschaft mit diesen Versuchen von Nichtfachkreisen. Gerade weil die Korrektur durch die Wissenschaft so schwer sich durchsetzt, müssen populärwissenschaftliche Werke mit besonderem Verantwortungs bewußtsein und historischer Treue geschrieben sein, sollen nicht Fehlurteile von langer Dauer und eventuell gefährlichen Folgen zustande kommen.

Alle kämpferischen Richtungen suchen ihre Rechtfertigung aus der Geschichte. Nun kann diese als einmaliger Ablauf unter bestimmten Voraussetzungen Begründungen im gewünschten Sinne gar nicht geben. Sinnlos und gefährlich sind deshalb solche Anklagen der Vergangenheit. Man kann etwa dem 15. Jahrhundert das Fehlen moderner Organisationsformen ebensowenig vorwerfen wie seine Unkenntnis des Radios.

Der klassenkämpferische Geschichtsbetrachtung ist bis zu einem gewissen Grade heute bereits der Boden entzogen. Adel, Kirche und Bürgertum existieren nicht mehr als primär herrschende Faktoren. Es hat keinen Sinn, jetzt noch in den gesellschaftlichen Kategorien der Vergangenheit zu polemisieren, die soziologischen Stände der Gegenwart können nicht mit denen der Vergangenheit gleichgesetzt werden, auch wenn sie den gleichen Namen tragen.

Wenn wir eine reine, von Sozialpropaganda freie Geschichtsbetrachtung retten, geben wir den Angehörigen aller Schichten das Gefühl der Ehrfurcht und Liebe für das Gewesene. Zugleich wird eine unfruchtbare und unhistorische Gesellschaftskritik vermieden. Lassen wir von Anklagen gegen die Vergangenheit, die allen gehört, ab, um in der Gegenwart besser zusammenzufinden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung