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Mensch und Partner

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Dr Arbeiter, so wie wir ihn verstehen, ist eine einmalige geschichtliche Erscheinung, die zum erstenmal mit der industriellen Revolution in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hervortritt, um dann erst im Laufe des 19. Jahrhunderts immer deutlichere Konturen anzunehmen. Will man die Eigenart des Arbeiters, seine Stellung in der heutigen Zeit begreifen, so muß man daher stets auf diese historische Ausgangssituation zurückblicken und von da her die Wesensmerkmale zu gewinnen suchen, selbst auf die Gefahr hin, keine eindeutige begriffliche Abgrenzung zu erreichen.

Entscheidend bleiben die speziellen Arbeitsbedingungen, die den arbeitenden Menschen zum Arbeiter im eigentlichen Sinne des Wortes prägen. Man spricht in dieser Hinsicht von einer proletarischen Ausgangssituation und versteht darunter all die Bedingungen und Folgen, die sich aus der Tatsache ergeben, daß der Arbeiter in einem kündbaren Lohnverhältnis steht, das ihm und seiner Familie die Grundlage zu einer Lebenshaltung bietet, die sich nicht wesentlich über das Existenzminimum erhebt. Selbst wenn sich die ökonomische Situation im Laufe der Zeit ganz entscheidend bessert und es heute manche Arbeiter gibt, die ein wesentlich höheres Einkommen als viele Angestellte und Beamte beziehen, so bleibt die proletarische Ausgangssituation psychologisch nach wie vor von grundlegender Bedeutung zum tieferen Verständnis der Stellung des Arbeiters im modernen Industriebetrieb. Offenbar sind es vor allem drei Wesenszüge des kündbaren Lohnverhältnisses, von denen wir in diesem Zusammenhang sprechen müssen:

1. die Abhängigkeit;

2. die Unsicherheit;

3. der Dauerzustand.

Der Arbeiter befindet und erlebt sich dem Unternehmer gegenüber in einem Verhältnis der Abhängigkeit, das ständig auf ihm lastet, selbst dann, wenn es ihm in ökonomischer Hinsicht gut geht. Das vertragliche Verhältnis, das die Arbeitsbedingungen regelt, ist zwar zwischen zwei grundsätzlich gleichberechtigten Partnern, dem Unternehmer und dem Arbeiter, geschlossen worden, in Wirklichkeit aber tritt das Uebergewicht der einen Seite stark in Erscheinung. Verständlich erscheint daher das Bemühen der Arbeiterschaft, sich aus diesem Abhängigkeitsverhältnis dadurch zu befreien, daß sie einen gewerkschaftlichen Zusammenschluß anstrebt, um auf diesem Wege das Gewicht ihrer großen Zahl zur Geltung zu bringen. Wichtig bleibt dieses Merkmal der proletarischen Ausgangssituation für das Verständnis der Einstellung des Arbeiters im modernen Industriebetrieb zu allen sozialen Maßnahmen und Einrichtungen, die von seiten der Unternehmer in oft erstaunlichem Ausmaß zum Wohl der Arbeiterschaft ins Leben gerufen werden. Solange es sich um einseitige Kundgebungen handelt, die den Charakter bloßer Geschenke oder Vergünstigungen aufweisen, werden sie einem tief eingewurzelten Mißtrauen von Seiten des Arbeiters begegnen, der darin — vielleicht mehr unbewußt als bewußt — nicht so sehr den guten Willen des Unternehmers als vielmehr eine erneute Bestätigung seiner Abhängigkeit erkennt. Erst wenn das ursprüngliche Abhängigkeitsverhältnis, wie es in der proletarischen Ausgangssituation effektiv herrscht, im Zeichen echter Partnerschaft abgewandelt wird, gewinnen solche Maßnahmen ein menschliches Gewicht, das, ganz unabhängig von der Höhe der Aufwendungen, für die Stellung des Arbeiters im Betrieb ernsthaft in die Waagschale fällt.

Ebenso bedeutsam wie die Abhängigkeit scheint uns die Unsicherheit der proletarischen Ausgangssituation zu sein, wenn es gilt, den Arbeiter in seiner Wesensart zu erfassen. Beide Momente bleiben natürlich aufs engste miteinander verknüpft. Die Tatsache allein, daß das Arbeitsverhältnis jederzeit gekündigt werden kann, schafft eine bedrohliche Atmosphäre der Unsicherheit, die den Arbeiter und seine Familie ständig bedrückt. Diese ständige Angst vor Arbeitslosigkeit kann dazu führen, daß in großen Schichten der arbeitenden Bevölkerung der Wunsch nach Sicherheit alles andere übersteigt .und sogar das Streben nach individueller Freiheit und deren Behauptung verdrängt. Die fatalen Folgen, die sich aus einer solchen Selbstpreisgabe für die politische Fehlentwicklung eines Landes ergeben, sind bekannt. Auf der anderen Seite wird man leicht einsehen, daß der Arbeiter mit allen Mitteln darauf hinwirken muß, in den Genuß einer überbetrieblich geordneten Arbeitslosenversicherung zu gelangen, die sich wohl ohne staatliche Aufsicht und Leitung kaum denken laßt. Wichtig erscheint dabei aber auch, daß bei solchen oder ähnlichen Versicherungswerken (Unfall-, Alters- und Hinterbliebenenversicherung) der Gedanke der Partnerschaft in vollem Umfang verwirklicht werden kann, wie das etwa in der Schweiz in vorbildlicher Weise geschehen ist. Ein solches Sozialwerk dient dann dazu, nicht nur bestimmten akuten Notzuständen zu begegnen, sondern eine Atmosphäre menschlicher Solidarität zu schaffen, die dem Arbeiter das Bewußtsein der Gleichberechtigung, das heißt aber auch der Gleichverantwortung, gibt.

Da die Arbeit im Industriebetrieb sowohl Beschäftigung als auch Erwerb bietet, müssen schwierwiegende Veränderungen in der Wesensart des Arbeiters auftreten, wenn er sich für längere Zeit aus dem Arbeitsprozeß ausgeschaltet sieht. Mit rein finanzieller Unterstützung in der Art des berüchtigten „Stempeins“ mögen sich wohl die Folgen der Erwerbslosigkeit mildern lassen, niemals aber kann auf diesem Wege jene quälende Last der Beschäftigungslosigkeit beseitigt werden, die verhältnismäßig rasch zu einer Deformierung der menschlichen Persönlichkeit führt. , Das dritte Merkmal der proletarischen Ausgangssituation ist die Dauerhaftigkeit. Abhängigkeit und Unsicherheit wären leichter zu ertragen und hätten die Wesensart, des Arbeiters auch nie so geprägt, wenn ihnen nur der Charakter vorübergehender Ausnahmeerscheinungen anhaftete. Erst dadurch, daß sie zu einem scheinbar unausweichlichen Schicksal für den einzelnen werden, gewinnen sie jene unheimliche Macht über den arbeitenden Menschen, die seine Wesensart selbst dann noch bestimmt, wenn sich die ökonomischen Verhältnisse weitgehend gebessert haben. In diesem Dauerzustand liegt auch der entscheidende Unterschied des modernen Arbeiters zu früheren Formen des im Lohnverhältnis arbeitenden Menschen. Ein Handwerksgeselle oder ein Bauernknecht hatte grundsätzlich, wenn auch nicht immer tatsächlich, die Chance, einmal ein selbständiger Meister oder Kleinbauer zu werden, während der Aufstieg des Industriearbeiters zum selbständigen Unternehmer die große Ausnahme bleibt. Ein tiefeingewurzeltes Ressentiment, geboren aus dem Bewußtsein des dauernden Ausgeschlossenseins, war die notwendige Folge dieses Zustandes. Ohne Zweifel hat sich auch in dieser Hinsicht heute vieles geändert. Zum Verständnis der Mentalität des Arbeiters muß man aber auch dieses ursprüngliche Merkmal der proletarischen Ausgangssituation stets im Auge behalten.

Wir stehen mitten in einer tiefgreifenden Umwandlung des Wirtschafts- und Soziallebens. Viele Forderungen der Arbeiterschaft nehmen wir heute als selbstverständliche Gegebenheiten hin. Manche Prognosen über die Entwicklung der. wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse haben sich als unrichtig ■ erwiesen. Dafür sind ganz neuartige Erscheinungen aufgetreten, arr die niemand gedacht hat, obwohl sie das Gesicht der heutigen Situation ausschlaggebend bestimmen: So etwa, wenn an die Stelle des Unternehmers immer mehr de r Typus des Managers tritt, der, ohne selbst Eigentümer eines Unternehmens und Fachmann auf einem eng umgrenzten Fachgebiet industrieller Produktion zu sein, ein großes Maß von Verfügungsgewalt in seiner Hand vereinigt und damit über Produktionsmittel und Arbeitskräfte herrscht. Der Begriff des kapitalistischen Unternehmers hat sich grundsätzlich gewandelt. Aber auch der Begriff des Arbeiters gewinnt einen immer weiteren Umfang, bis er schließlich alle Werktätigen eines Volkes oder Kulturkreises umfaßt. Der traditionelle Gegensatz zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum, wie er im Laufe des 19. Jahrhunderts immer schärfer in Erscheinung getreten war, beginnt sich aufzulösen. An die Stelle des Staatsbürgers, als Repräsentant der besitzenden Bevölkerungsschicht, tritt der neue Typus eines Arbeitsbürgers, der sich je länger desto mehr zum Träger des staatlichen Lebens in der abendländischen Welt entwickelt. Die technische Entwicklung der Industrie, des Verkehrs- und Nachrichtenwesens führte nicht zu jener Zusammenballung der Produktionsmittel in wenigen Händen auf engem Raum, wie es vorausgesagt wurde. Eher läßt sich eine Tendenz zur Dezentralisierung feststellen, wobei eine Fülle von Arbeitsmöglichkeiten in Erscheinung tritt, die dem arbeitenden Menschen immer wieder neue Felder erschließen.

Die Forderung, das Verhältnis zwischen Arbeiter und Unternehmer im Sinne einer sozialen Partnerschaft auf der Basis guten Willens und gegenseitigen Vertrauens zu entwickeln, dürfte von keiner Seite bestritten werden. Fraglich bleibt nicht das Ziel, sondern lediglich der Weg, auf dem es am besten erreicht werden kann. Eine echte Partnerschaft scheint aber nur möglich, wenn das drückende Abhängigkeitsverhältnis und die Unsicherheit beseitigt werden, die als Dauerschicksal über dem Arbeiter in der proletarischen Ausgangssituation schwebten. Das Arbeitsverhältnis soll aus dauernder Abhängigkeit und Unsicherheit in eine Partnerschaft übergehen, wie sie Papst Pius XI. schon 1931 in seiner berühmten Enzyklika „Quadragesimo anno“ gefordert hat: „Wenn auch der Lohnvertrag nicht als ungerecht erklärt werden kann, so mag doch für den heutigen Stand der gesellschaftlichen Wirtschaft eine kluge und maßvolle Annäherung des Lohnarbeit Verhältnisses an ein Gesellschaftsverhältnis sich empfehlen. Erfreuliche Anfänge sind ja bereits gemacht, zum nicht geringen Nutzen der Arbeitnehmer wie der Produktionsmittelbesitzer. Arbeiter wie Angestellte gelangen auf diese Weise zu Mitbesitz oder Mitverwaltung oder zu einer gewissen Art von Gewinnbeteiligung.“

Auch den Aufstiegsmöglichkeiten, gestützt auf eigene Leistung, unabhängig sowohl von Herkommen und sozialem Prestige, aber auch von parvenühaftem Strebertum, gebührt größte Aufmerksamkeit. Neben den wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen, die zu einer solchen Partnerschaft zwischen Unternehmer und Arbeiter führen, dürfen aber auch die psychologischen Bedingungen nicht außer acht gelassen werden. Nur durch umfassende Erziehungsarbeit kann das tief eingewurzelte Mißtrauen überwunden werden, das heute noch von der proletarischen Ausgangssituation her im Arbeiter schlummert und bei jedem sich bietenden Anlaß zum Ausbruch drängt. Erst dann scheint uns eine solide Grundlage geschaffen, auf der sich die Forderung nach Mitsprache- und Mitbestimmungsrecht in eine Bereitschaft zu echt menschlicher Mitverantwortung erhebt. An den Unternehmern, als den wirtschaftlich mächtigeren Partnern aber ist es, die ersten entscheidenden Schritte in dieser Richtung zu tun. Auf der anderen Seite sollen die Arbeiter durch Selbstkritik das tief eingewurzelte Mißtrauen überwinden und zur tatkräftigen Mitarbeit bereit sein.

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