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Mittelstandspolitik

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In den letzten Dezennien hat die gesellschaftliche Schichtung der Industriestaaten tiefgreifende Umwälzungen erfahren, so daß man zeitweilig daran zweifeln konnte, ob die seit der Französischen Revolution gebräuchliche Dreiteilung der Gesellschaft in Oberschichte, Mittelschichte und Unterschichte noch weiter Geltung habe. Sicher ist nur, daß die von Marx vorausgesagte Verelendung der Mittelschichte und die dadurch ermöglichte Diktatur des Proletariats nicht eingetreten ist, daß im Gegenteil der Mittelstand nicht untergegangen, sondern zum Teil im Anwachsen ist.

Die Umgrenzung des Mittelstandes allerdings hat ihre Schwierigkeiten.' Allgemein wird man sagen können, daß sich der Mittelstand aus den freien Berufen, aus den mittleren und kleineren Unternehmern und aus der öffentlichen und privaten Angestelltenschaft zusammensetzt; dazu kommen noch andere Gruppen, so daß bezeichnenderweise die Franzosen den Begriff Mittelstand mit »les. classes moyennes“ ausdrücken. Bestimmend für den Mittelstand ist es, daß seine Berufstätigen nicht überwiegend körperliche Arbeit leisten (die Amerikaner sprechen hier auch deshalb von White Collar Workers) und daß sich für die Berufstätigen des Mittelstandes besondere soziale Aufstiegsmöglichkeiten ergeben.

Im Zeichen des allgemeinen Wahlrechts hängt die politische, zum Teil damit auch die kulturelle und wirtschaftliche Bedeutung einer Gesellschaftsschichte stark von ihrer numerischen Größe ab — was auch deutliche Rückwirkungen auf das Programm der politischen Parteien hat... Bei dem Versuch, diese Größe festzustellen, lassen uns nun leider die Ergebnisse der Volkszählung von 1951 in Stich. Wir wissen zwar, daß sich für Österreich die berufliche Schichtung (Berufsträger einschließlich der Familienangehörigen) wie folgt darstellt (in Prozenten der Gesamtbevölkerung): Land-und Forstwirtschaft 22, Industrie und Gewerbe 37, Handel und Verkehr 13, freie^ Berufe 5, öffentlicher Dienst 5, häuliche Dienste 1, selbständige Beruflose 12, unbekannt 5. Wir wissen weiter noch aus den Volkszählungsergebnissen, daß von den 3,35 Millionen Berufstätigen 585.300, gleich 17,5%, auf die Selbständigen, 610.000, gleich 18,2%, auf die mithelfenden Familienangehörigen und 2,157.000, gleich 64,3%, auf die Unselbständigen entfallen. Wir kennen aber innerhalb der einzelnen Berufe das Verhältnis zwischen den manuellen Arbeitern und den Angestellten und in der Zwischenzone nicht genau. Für Wien beispielsweise liegen nachstehende Globalziffern vor: insgesamt 837.000 Berufstätige; davon 15% Selbständige, 34% Angestellte und 51% Arbeiter. Immerhin lassen genügend Indizien eine ungeschmälerte Position des Mittelstandes sowohl gegen Oberschicht sowie Unterschicht erkennen. In der Gruppe der Selbständigen zeigt sich, daß bei der Industrie in Osterreich der Mittelbetriebscharakter vorherrscht: die 50 bis 100

Mann starken Betriebe beschäftigen 10,8%, bis 250:16,8, bis 500:16,3 und bis 1000 : 13,7% sämtlicher industrieller Arbeitskräfte. Neben Klein- und Mittelindustrie gehört zum Mittelstand noch das Gewerbe, das in Osterreich mit 179.500 Betrieben und nahezu 600.000 Beschäftigten an der Spitze aller österreichischen Berufsgruppen steht. Einschließlich der Familienangehörigen bestreitet der fünfte Teil der österreichischen Bevölkerung seinen Lebensunterhalt aus dem Gewerbeverdienst. Scheidet man aus Mittelindustrie und aus Gewerbe die manuellen Arbeiter aus, so verbleiben zumindest einige hunderttausende Mittelstandsangehörige. Vom Untergang des Mittelstandes oder von seiner Dezimierung kann also schon im Hinblick auf die Gruppe der Selbständigen nicht die Rede sein,- man wird hier eher Bedenken gegen ein weiteres Anwachsen des mitte'ständischen Unternehmertums hegen müssen (man erinnere sich an die Industriesperrverordnung, an das Untersagungsgesetz usw.); nicht nur vom Standpunkt der Abwehr eines ruinösen Konkurrenzkampfes, sondern vor allem im Hinblick auf die Gefährdung der volkswirtschaftlichen Produktivität. Wie in vielen Staaten, so sind auch in Osterreich die typischen Mittelstandsberufe — Verteilung, Verwaltung, Freie Berufe, persönliche Dienste usw. — überbesetzt; produktiver aber als aufpassen, kontrollieren, werben und dergleichen ist das Produzieren selbst.

Eine zweite Quelle des Anwachsens des Mittelstandes bildet die Vermehrung der Angestelltenschaft. Die Zahl der Bundesangestellten im weitesten Sinn beträgt derzeit in Österreich 455.000, wozu noch die Angestellten der Länder, der Gemeinden und der öffentlich-rechtlichen Korporationen kommen, über das zahlenmäßige Anwachsen der Privatangestellten liegen verläßliche Ziffern nicht vor; jedenfalls haben sie sich im Zusammenhang mit dem Ralio-nalisierungsprozeß in der Wirtschaft in Österreich wie in anderen Staaten stark vermehrt; in Schweden beispielsweise stieg die Zahl der Angestellten in den letzten Dezennien von 8 auf 24% der berufstätigen Gesamtbevölkerung, und in den USA entfällt heute ein Ingenieur auf 60 Arbeiter (1900: ein Ingenieur auf 250 Arbeiter). Dieser ^Anstieg löste auch hier Reaktionen, wie Warnungen vor dem Hochschulstudium, vor einer Überschätzung der Schreibtischarbeit usw., aus.

Es enthüllt die Hartnäckigkeit sozialer Vorurteile in ihrer ganzen Größe, daß der Drang zu den mittelständischen Berufen ungemindert anhält — trotz aller Warnungen, trotz der weithin sichtbaren Erschütterungen, denen alle Mittelstandsgruppen seit Beginn des ersten Weltkrieges ausgesetzt waren. Bekanntlich hat die ökonomische Entwurzelung des Mittelstandes seit 1918 — zum Teil kriegsbedingt, zum Teil unter dem politischen Aspekt einer Vernichtung der „Bourgeoisie“ — starke Fortschritte gemacht. Die Inflation brachte für den

Mittelstand, den hauptsächlichen Träger der Spartätigkeit, auf „legalem Wege“ die Entwertung der Renten und Wertpapiere und der Hypothekarpfandbriefe; die Mieterschutzgesetzgebung entwertete den Urbanen Realbesitz; schließlich räumten FHtlerregime, zweiter Weltkrieg und gewisse Entgleisungen in der Wiedergutmachungsgesetzgebung mit den letzten Resten einer Sicherung des Eigentums auf — im Gegensatz zu Deutschland, wo sich nach dem ersten Weltkrieg die Aufwertungsgesetzgebung und nach dem zweiten Weltkrieg der Lastenaus-gleich als wirksame Instrumente zur wirtschaftlichen Sicherung des Mittelstandes erwiesen. In Österreich tobt dagegen ein anhaltender publizistischer Kampf gegen den „Kapitalismus“, wobei man sich fragen muß, wo denn heute der Kapitalist von einst zu finden ist, da Staatsmonopole, Staatsbetriebe, Staatsregale und verstaatlichte Industrie beinahe die halbe Kapazität der gesamten gewerblichen Wirtschaft ausmachen und in der Privatindustrie die Funktionen des Kapitalisten von einst längst aufgespak ten sind.

Auch ist es tragisch, daß Ansätze zu einer Wiederherstellung normaler Wirt-Schaftsverhältnisse oft nur zu Verschiebungen innerhalb des mittelständischen Gesamtinteresses führen; so hat beispielsweise die 1951 durchgeführte Mietenreform durch den linearen Charakter der Ausgleichsmaßnahmen den einen geholfen, andere Mittelstandsschichten dagegen wieder schwer getroffen.

Den gleichen Substanzverlust beklagen seit dem Ende des zweiten Weltkrieges die unselbständigen Berufstätigen des Mittelstandes, deren Bezüge weder mit dem allgemeinen Preisanstieg noch mit der Lohnvalorisieiung der manuellen Ar-: beiter schrittgehalten haben. Bei den Ärzten ist das Realeinkommen um ein Drittel hinter dem Vorkriegsstand zurückgeblieben; bei den Rechtsanwälten dürfte die Spannung noch größer sein. Für die leitende Beamtenschaft in Österreich liegen konkrete Ziffern vor: seit dem Jahre 1914 sind die Preise (in Kronen) auf das rund Zwölffache gestiegen, die Bezüge eines Beamten der ersten Dienstklasse auf da« 3,6fache; noch, ungünstiger ist der Vergleich bei den 'Nettobezügen; bei der vorgenannten Gruppe von leitenden Beamten betrug 1914 die Schmälerung des Bruttobezuges durch die Steuern 4,16%, im Jahre 1951 für die Steuergruppe I nicht weniger als 41%! Steuersätze und Steuerprogression zerstören heute planmäßig die Fundamente des Mittelstandes; und die auf Steuererhöhungen abgestellte Budgetpolitik gewisser Kreise ist eines der wirksamsten Instrumente des Klassenkampfes,

Wie in vielen anderen Staaten ist sich auch in Österreich der Mittelstand seines Schicksals wie auch seiner Bedeutung bewußt, was sich naturgemäß auch auf das politische Leben — verstehe: die Taktik und Programme der Partelen — auswirkt. Im Vordergrund der »hier immer wieder erhobenen Forderungen steht die Änderung der Steuerpolitik, wozu kürzlich die maßgebende Untemehrnerorganä-sation des Mittelstandes in Österreich mit Recht die Erstellung eines ausgeglichenen Budgets, die Unterlassung weiterer Steuererhöhungen, die Milderung der Steuerprogression und die steuerliche Begünstigung der freien Berufe verlangt hat. Dazu müßten ergänzend die Abwehr weiterer offener oder getarnter Verstaatlichungen, die Entnivel-lierung der Angestelltenbezüge, die wenigstens teilweise Valorisierung der Beamtenbezüge, die Förderung des Wohnungseigentums, die Abkehr von der Enteignungspolitik und überhaupt die Wiederherstellung von Treue und Glauben in der Wirtschaftspolitik treten. Mittelstandspolitik in diesem Sinn hat letzten Endes die großen politischen Gefahren für die Zukunft unseres Vaterlandes au bannen, die sich aus dem Mangel einer Wirtschaftsstabilisierung ergeben; sie hat auch den Niedergang zu bannen, zu dem die Verkümmerung von Kunst und Wissenschaft unabwendbar führen müßte.

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