Der Mittelstand als Bevölkerungsmehrheit ist ein junges Phänomen. Ganz abgesehen von der Frage seiner Definition, gehörte ihm noch vor einem halben Jahrhundert nur jeder Siebte an.
Wer sich selbst zum Mittelstand rechnet, tut dies oft mit einer gewissen Genugtuung. Der Begriff wird als Indikator für einen persönlichen Erfolg gedeutet: Man gehört nicht zu jenen, die scheitern, und grenzt sich dennoch von "denen da oben“ ab - seien es die ungeliebten Politiker oder, gerade in der jüngsten Vergangenheit, Manager und Banker, die, gerne als "Bonzen“ oder "Abzocker“ beschimpft, "es sich richten können“.
Teilhabe am "Wirtschaftswunder“
Der Mittelstand ist aber auch ein Symbol für den wirtschaftlichen Erfolg einer ganzen Gesellschaft. Wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg half das "Deutsche Wirtschaftswunder“ mit, dass ein zerrissenes, in seinem Selbstvertrauen erschüttertes Volk wieder zusammenfinden konnte. Die Konjunktur ermöglichte es in den letzten sechs Jahrzehnten immer mehr Leuten, sich durch Jobsicherheit und Wohlstand eine gemeinsame Identität zu geben. Nicht zuletzt wurde durch den internationalen Handel von Beginn an neues Vertrauen zwischen verfeindeten Nationen geschaffen.
"Österreich konnte am Wirtschaftswunder voll teilhaben“, erinnert das Forum Oberösterreichische Geschichte, eine Kooperation oberösterreichischer Kulturinstitutionen, und führt "diese unerwartet rasche, positive Entwicklung“ auf "den technischen Fortschritt, die rasch sinkenden Energiepreise, die wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik und die amerikanischen Hilfsprogramme“ zurück. Das Wachstum erstreckte sich zwischen 1953 und 1962 "über zwei volle Konjunkturzyklen, wie das unter der wissenschaftlichen Leitung der Universität Linz stehende Forum auf www.ooegeschichte.at resümiert.
Amerikanischer Traum
Die sagenhaften 6,1 Prozent jährliches Wachstum wurden damals in Europa nur von der Bundesrepublik übertroffen, Ende der 50er-Jahre wurde die Vollbeschäftigung erreicht. "Ansteigende Löhne und Einkommen fanden im neuen Konsumverhalten der Bevölkerung ihren Ausdruck: Insbesondere amerikanische Produkte und Luxusgüter hatten es den Österreichern angetan. Erhöhter Konsum, gesteigerte Freizeit und Mobilität sowie die Ausstattung der Haushalte mit neuen Innovationen waren nun leistbare Annehmlichkeiten, die ein neues Lebensgefühl einleiteten.“
Bereits in seinem Monatsbericht vom Jänner 1961 beschäftigte sich das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung (Wifo) ausführlich mit dem Mittelstandsbegriff. Eine Schwierigkeit sah man vor allem darin, "dass jeder Stand durch eine Lebensauffassung seiner Mitglieder gekennzeichnet ist“. Die lasse sich zwar "als sozialpsychologische Erscheinung erkennen“, nicht aber anhand objektiver Merkmale erfassen. Weshalb es viel leichter sei, "den Mittelstand zu umschreiben, als die Zahl seiner Mitglieder zu messen“.
Dennoch steckte das Wifo damals schon Eckpunkte ab, die den mittelständischen Lebensstil festmachten. Etwa "berufliche Verantwortung und die Ausübung einer selbstständigen Tätigkeit, die eigene Initiative ermöglicht und erfordert“. Damit war nicht nur der formal Selbstständige, im Sinne eines (Klein-)Unternehmers, gemeint, sondern auch leitende Privatangestellte und Beamte.
"Aus dem Gefühl, Verantwortung zu tragen, hat sich in jedem mittelständischen Beruf ein besonderes Berufsethos entwickelt, das wesentlich zum mittelständischen Lebensstil gehört“, heißt es weiter. Voraussetzung dafür war "eine höhere Bildung“. Schlussendlich gehörte zum Mittelstand der frühen 60er-Jahre auch "ein genügend hohes Einkommen“, das seine Angehörigen "der primitivsten Existenzsorgen enthebt“. Von einem breiten Mittelstand, wie er heute von der Politik beschworen wird, konnte keine Rede sein, wie der Bericht deutlich macht, denn: "Der Mittelstand ist eine Gruppe, die in dem Bewusstsein lebt, sich von der Masse der Bevölkerung abzuheben.“
Ein früher Definitionsversuch
Geht man die damals als mittelständisch geltenden Berufe durch, so ergibt sich ein höchst interessantes Bild der frühen Zweiten Republik. So fanden sich unter den damals sieben Millionen Österreicherinnen und Österreichern 255.000 Selbstständige. 132.000 davon beschäftigten höchstens 49 Dienstnehmer. Allein diese Kleinunternehmer ordnete das Wifo dem Mittelstand zu.
Weiters wurden rund 24.000 Freiberufler erfasst, womit die Gruppe u. a. um Ärzte, Apotheker, Rechtsanwälte, Wirtschaftstreuhänder und Kunstschaffende bereichert wurde. Von den 285.000 hauptberuflichen Landwirten jener Zeit wurden jene 130.000 als Mittelständler gewertet, deren Betrieb im Bereich von zehn bis 200 Hektar lag.
Beamte und öffentliche Angestellte zählten dazu, sofern sie A- oder B-wertig waren, bzw. "in äquivalenter Stellung“, wobei erstere eine akademische Ausbildung und letztere zumindest die Reifeprüfung absolviert haben mussten. Insgesamt machten sie 105.000 Personen aus, ergänzt durch 85.000 private Angestellte höherer Position.
Ergänzt um 100.000 Pensionisten des öffentlichen Dienstes und 24.000 entsprechend dotierte "private“ Pensionisten ergibt sich für den Mittelstand des damaligen Wirtschaftsbooms eine Summe von 600.000 Personen im engeren, sowie etwa 930.000 Personen im weiteren Sinn - nach einer etwas "weicheren“ Definition der Berufsgruppen. Fakt bleibt: Bei dieser Rechnung ist der damalige Mittelstand mit einem Bevölkerungsanteil von etwa 13 Prozent begrenzt, und damit um den Faktor fünf kleiner als heute, wo das Wifo - freilich mit einer völlig neuen Definition (siehe Artikel S. 22/23) - fast zwei Drittel mittelständische Bürgerinnen und Bürger ausmacht.
Zur historischen Entwicklung des Mittelstandsbegriffs sei auf einen Artikel in der deutschen Zeitschrift Der Steuerberater vom April 2009 verwiesen. Demnach liegen dessen Wurzeln im Altertum. Bereits bei Aristoteles und Euripides gab es Überlegungen, die den Bürger des "mittleren Besitzes“ als staatstragend betonten, und im "Mittleren“ generell "das Beste“ sahen, zeichnen Gerd Waschbusch, Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Universität des Saarlandes, und seine zwei Mitautoren nach.
Davon seien mehrere europäische Sprachen beeinflusst, wobei sich etwa im Niederländischen das Wort "middlestaet“ bis ins Jahr 1465 zurückverfolgen lasse. Auch Daniel Defoe habe 1719 in seinem berühmten Abenteuerroman über Robinson Crusoe den "middle state“ beschrieben, der 1721 als "Mittel-Stand“ ins Deutsche übersetzt worden sei. "Wohingegen der korrespondierende englische Begriff ‚middle class‘ erst 1812 zum ersten Mal auftauchte“, wie Waschbusch und Kollegen schreiben.
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!