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Der Praktiker

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„Der Feind, den wir am meisten hassen, das ist der Unverstand der Massen I“ So hieß einer der Leitsprüche der Arbeiterbildungsvereine in den letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts, jener Vereinigungen, aus denen sich später die politisch organisierte Arbeiterbewegung entfaltete. Die Führer des Proletariats hatten die Wichtigkeit der Tatsache erkannt: die Arbeiterklasse bedurfte dringend einer mit wachem Intellekt erfüllten Schicht, die sich bildungsmäßig von der breiten Masse ihrer Anhängerschaft abhob, ohne dabei die Bindungen zur angestammten --Klarte1'1!«!-verleugnen. „Bildung macht frei!“ lautete ein anderer Slogan.

Man erblickte bekanntlich eines der Hauptziele zu fuhrenden Kampfes darin, den Arbeiter aus der zwölf- und vierzehnstündigen „Lohnsklaverei“ zu befreien, ihm Freizeit, mehr Zeit für sich selbst, mehr Zeit für sein Menschsein zu erkämpfen. In der Abeiter-dichrung jener Tage ertönt immer wieder der Ruf nach „mehr Zeit“. Diese sollte dem Arbeiter den Zugang zu den

Bildungs- und Kulturgütern ermöglichen und in einer noch unbestimmten Zukunft den „neuen Menschen“ formen helfen, den Arbeiter mit einem hohen politischen, moralischen und geistig-kulturellen Bewußtsein.

Die materiellen Ziele, für welche die Groß- und Urgroßväter der Generation von heute einst marschierten und demonstrierten, sand im wesentlichen erfüllt, in manchen Bereichen überfüllt. Hier erhebt sich nun die Frage: Würden jene Arbeiterführer der achtziger und neunziger Jahre mit ihren Enkeln urid Urenkeln wohl -zufrieden sein? Würden sie das Bild vom Arbeiter, das sie damals vor ihr geistiges Auge zukunftsgläubig beschwör-ten, in der Wirklichkeit heute annähernd wiederfinden? Gewiß, auf materiellem Gebiet würde sie der erzielte Fortschritt beglücken, vielleicht sogar frappieren. Ob sie aber auch auf der geistig-kulturellen Ebene — im Angesicht des erträumten „neuen Menschen“ — das gleiche empfinden würden?

In der „Solidarität“, dem Zentralorgan des österreichischen Gewerkschaftsbundes, wurde vor einiger Zeit festgestellt, daß heute die Erfüllung der materiellen Ziele der Arbeiter und Angestellten sinnlos zu werden drohe durch die „Verspießerung“ auf geistig-charakterlichem Gebiet: Die Verkürzung der Arbeitszeit, respektive die Verlängerung der Freizeit werde von vielen Interessenlosen mißbraucht. Entweder seien sie jetzt „Kilometerfresser“, konsumierten Unmengen Alkohol, hätten sich daseinsfremde Angebermanieren zugelegt — vermöchten aber oft nicht einmal eine Tageszeitung mit Verstand zu lesen. Bisher habe man den Kampf im arbeitsrechtlichen Sinne zu bestehen gehabt, nunmehr aber gelte es wieder einen Kampf im geistigen Sinne zu führen.

Gerade die Gewerkschaften versuchten in den letzten Jahren mit besonderen Anstrengungen, die Bildungsarbeit unter ihren Mitgliedern zu intensivieren. Aber es ist kein Geheimnis geblieben: Das Interesse für echte Bildungsarbeit — sofern sie über Lichtbildervorträge usw. hinausgehen soll — ist keineswegs befriedigend. Um den Stoßseufzer eines Gewerkschaftsfunktionärs zu wiederholen: „Die Leute haben einfach für nichts Interesse. Vielleicht könnten wir die Säle besser füllen, wenn wir die Vorträge grundsätzlich unter der Devise ankündigten! Eintritt frei, im Anschluß Tanz!“

Intellektuelle auf dem Ruckzug

Es wäre wohl einseitig, das merkliche Kultur- und Bildungsdesinteresse bloß bei einer bestimmten Gesellschaftsschicht zu registrieren.

Der Wiener Universitätsprofessor Dr. Viktor F r a n k 1 nahm im letzten Novemberheft der Zeitschrift de«

^•iBlrSFSrr^^ schenwacht“ unter dem Thema „Die geistige Krise des Mittelschülers“ zu dieser Situation Stellung. Er spricht in diesem Zusammenhang vom „Bestehen einer Kulturkrise schwerster Art.“

„Eines der wichtigsten Symptome dieser Krise besteht darin, daß sich die überwältigende Mehrzahl der Mittelschüler für nichts mehr interessiert, das über die Angelegenheiten ihres persönlichen Wohlergehens im engsten Sinne — unter Einschluß von Kinobesuch, Flirt und Sport — hinausgeht...

Man kann die Mittelschuljugend im allgemeinen weder für ästhetische noch für literarische, noch für wissenschaftliche, noch auch für politische Fragen ernstlich interessieren.“ — Pofessor Frankl nennt diese Erscheinung eine „soziale Naturkatastrophe“, die sich in der Abnahme des Kulturwillens in einem beträchtlichen Teil des Volksganzen dokumentiert. Der bekannte Gelehrte weist darauf hin, daß sich auch die Universität dem gleichen Dilemma ausgeliefert sieht: Die wenigsten Hörer bekunden besonderes Interesse für Fragen der Wissenschaft und der Forschung. Man begnügt sich in der Regel mit der Aneignung des unbedingt notwendigen Wissensmaterials, das für die Erlangung eines Berufstitels erforderlich ist. Nach seinen Worten ist die erste wissenschaftliche Kulturstätte Österreichs — die Wiener Universität — heute zu einem „schlichten Berufsvorbereitungsinstitut“ geworden.

Der Beachtung wert und aufschlußreich erscheint die Feststellung über eine Institution, in der Professor Frankl auf Grund seiner eigenen pädagogischen Erfahrungen den „Silberstreif am Horizont“ — wie er sich ausdrückt — zu erkennen glaubt, nämlich in der Funktion der Arbeitermittelschulen. Diese dienen bekanntlich Arbeitern und Angestellten, die tagsüber einer Berufsarbeit nachgehen, sich in Abendkursen innerhalb von viereinhalb Jahren das Rüstzeug für die Mittelschulreifeprüfung anzueignen. Durch die Berufsarbeit sind hierbei die Studierenden einer besonderen physischen und psychischen Belastung ausgesetzt. Der Pädagoge und Wissenschaftler fand an diesen Abendschulen jenen Menschentypus, den er in der Vormittagsschule vergeblich gesucht hatte: ein von starkem Bildungsdrang erfülltes „Menschentum, das eine so einzigartige Frische und Lebendigkeit des Kulturlebens, eine solche Leidenschaft kulturellen Strebens in sich trägt“. — Professor Frankl meint, der Staat müßte dieser Institution im Hinblick auf .eine Erneuerung des österreichischen Kulturlebens besondere Förderung angedeihen lassen, um auf diese Weise einem „neuen, kulturell noch unverbrauchten Menschentum“ den Weg in das Kulturleben bahnen zu helfen.

Es liegt nahe, diese Krisensymptome, die sich ebenso in zahlreichen anderen Sparten des Kultur- und Geisteslebens aufspüren ließen, auch im Hinblick auf die Auseinandersetzung zwischen Ost und West zu beachten. Es wäre ein Fehler, diese Symptome einfach zu negieren, bloß deswegen, weil sie das vielfache bereits zur Phrase entwertete Denkschema von der „großen kulturellen Sendung des Abendlandes“ empfindlich stören. Man darf sich darüber nicht hinwegtäuschen, daß der Osten in Bildung und Kultur große Erfolge aufzuweisen hat. Wenn man im Westen durch tiefgreifende therapeutische Maßnahmen diese Krise nipht zu meistern versteht, könnte sie zur tödlichen Krankheit führen.

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