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Spaniens grobe brennende Frage

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Die soziale Malaise der arbeitenden Volksschichten ist seit Jahrzehnten der Alpdruck vieler Regierungen Spaniens gewesen. Aber unter keiner anderen Regierung hat sie wohl das Ausmaß feiner solchen Dauerkrise angenommen wie unter der jetzigen, der auch ausländische Sozialpolitiker oft überrascht zugestehen, sie besitze seltsamerweise eine der fortschrittlichsten sozialen Gesetzgebungen der Welt. Immerhin mögen es auch Franco und seine Regierung wissen, daß mit einer vorbildlichen Gesetzgebung allein nicht alles getan ist, besonders dann, wenn sie auf Voraussetzungen und Bedingungen aufgebaut ist, die heut längst überholt sind, und wenn die praktische Anwendung der Gesetze immer wieder auf Schwierigkeiten stößt, die oft genug vom übelwollen der mit ihrer Ausführung beauftragten Organe hervorgerufen oder zumindest ausgenützt werden. Die Fa-lange selbst, die Trägerin der Erhebung Francos, war eine der ausdauerndsten Rufer nach der kompromißlosen Durchführung der in den Forderungen der Revolution enthaltenen sozialen Programme. Ihr Erfolg war jedoch recht mager. — Sie ist keine Partei der Massen; sie will, wie sie sagt, eine „Auslese der Besten“ des Volkes in ihren Reihen sehen, und es fehlt ihr daher einerseits die Tiefenwirkung, andererseits das Gewicht militanter Massen. Auch die von der Falange kontrollierten Arbeitersyndikate entbehren dieses Gewichts. Sie haben sich nie das Vertrauen der Arbeiterschaft erwerben können. Man nimmt zwar ihren Schutz in Ansprach, bei ungerechtfertigten Entlassungen, bei Tariffragen, in individuellen Streitigkeiten, aber man glaubt ihnen nicht, daß sie grundsätzliche, die Gesamtheit des arbeitenden Volkes betreffende Fragen mit dem Interesse zu behandeln bereit sind, auf welches das Volk Anspruch erheben kann.

Den Belegschaften in den Betrieben ist es praktisch unmöglich, Kandidaten für die Wahlen aufzustellen, in denen die Vertreter der Arbeiterschaft in den Syndikaten bestimmt werden sollen. Vereinzelt und zeitweise hatten sich zwar gewerkschaftliche Vertreter aus der Zeit der Republik mit alten Bindungen zur Sozialdemokratie in mehr oder weniger verantwortlichen Posten halten können. Bei den Wahlen des vergangenen Jahres wurden dem Schreiber dieser Zeilen jedoch Fälle bekannt, in denen solche von der Arbeiterschaft anerkannte Vertreter nicht mehr als Kandidaten zugelassen wurden. Das hatte in einzelnen Betrieben Stimmenthaltungen von 35 bis 40 Prozent der Belegschaft zur Folge. Wenn auch die Mehrheit der restlichen 60 bis 65 Prozent der Wähler programmgemäß ihre Stimme den auf die Listen gesetzten Kandidaten gab, so wurden diese doch innerhalb der Betriebe, besonders auf Betreiben der älteren Jahrgänge der Belegschaft, häufig systematisch isoliert.

Infolgedessen sehen sich die spanischen Gewerkschaften in die Rolle von ungebetenen Protektoren einer Arbeiterschaft gedrängt, die in ihnen — ob mit Recht sei dahingestellt — ein Instrument jener Kreise und Kasten erblickt, die sich der politischen und rechtlichen Emanzipation der Arbeiterschaft widersetzen.

Inzwischen aber hat die Franco-Regie-fung eine ganze Reihe ihrer politischen Ziele erreicht. Die diplomatische Rehabilitierung hat vor allem Spanien als gleichberechtigten Staat in die europäische Gemeinschaft zurückgestellt. Auf wirtschaftlichem Gebiet hatte das langsame, freilich nicht von Rückschlägen und Enttäuschungen verschonte Wieder-ingangkommen der spanischen Außenhandelsbeziehungen in einem gewissen Maße sanierend gewirkt.

Der „nationale Arbeiterkongreß“

Nach Erreichen dieser Ziele, und wahrscheinlich unter dem Druck einer ausländischen Macht, die an der Gesundung des staatlichen Organismus Spaniens interessiert ist — Amerika —, möglicherweise aber auch infolge des Einflusses gewisser Unterorganisationen der UN, schien nun die spanische Regierung den Zeitpunkt für gekommen zu halten, an die Lösung des brennendsten Problems dieses Landes zu gehen: die Beseitigung der sozialen Mißstände. Der „II. Nationale Arbeiterkongreß“, der vom 6. bis 10. März in Madrid stattfand, sollte diese neue Phase der nationalen Wiedergeburt offensichtlich einleiten. Der Name „Arbeiterkongreß“ war zwar ein wenig frei gewählt, haridelte es sich doch eigentlich um eine Tagung von 400 Delegierten, die auf Grand der Betriebswahlen des vorigen Jahres als gewerkschaftliche Wortführer der Arbeiterschaft gelten können.

Dieser Kongreß hat sich an eine Reihe von Themen gewagt, die bisher in der spanischen Öffentlichkeit für ziemlich „tabu“ galten, obwohl einige von ihnen schon im ersten „Arbeiterkongreß“ im Jahre 1946 angeschnitten, dann aber zer-' redet und vergessen worden waren, darunter die Angleichung der Löhne und Sozialleistungen an die Preise, die restlose Durchführung der Sozialversicherungen und, als hauptsächlichste neue Themen, die Kodifizierung der Rechte und Ansprüche der Landarbeiter, die Teilnahme der Arbeiter an den Gewinnen ihrer Unternehmerfirmen, die Einführung des sogenannten „Gesellschaftsvertrages“ an Stelle des Arbeitsvertrages, in beschränktem Sinne das „Mitbestimmungsrecht“. Es entwickelten sich lebhafte Diskussionen, und die Abstimmungen mit ihren 45 : 55 vom Hundert und ähnlichen Ergebnissen rechtfertigten durchaus nicht die Befürchtungen jenes Prozentsatzes der Arbeiter, der sich bei den Betriebswahlen der Stimme enthalten hatte, daß nämlich die neugewählten Vertreter in den Syndikaten zu charakterlosen Jasagern in jenen Fällen werden würden, in denen sie auf den Widerstand mächtiger, womöglich autoritärer Instanzen stoßen würden.

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