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Die Arbeiterschaft und Europa

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Es ist nachgerade zu einer Binsenwahrheit geworden, daß der Marxismus in Westeuropa Schiffbruch erlitten hat. Seit sich die klassische marxistische Arbeiterpartei des Kontinents, nämlich die deutsche Sozialdemokratie, vom Marxismus offiziell losgesagt hat, wie es jüngst geschehen ist, kann man die europäische Arbeiterbewegung nicht mehr als eine marxistische. bezeichnen, wenn in ihr auch noch manche marxistische Elemente enthalten sein mögen. Ebenso steht aber auch fest, daß es bis jetzt nicht gelungen ist, das neue Glaubensbekenntnis der europäischen Arbeiterschaft zu formulieren. Die Arbeiterbewegung ist vielmehr in eine Phase geistiger Desorientierung.. eingetreten, oder rieh tiger: sie hat aus dieser Phase, die nicht erst eine Erscheinung von heute ist, noch immer nicht herausgefunden.

Seit dem Ende des zweiten Weltkrieges sind die Chancen der europäischen Arbeiterbewegung, wieder festen geistigen Grund zu gewinnen, allerdings erheblich gestiegen. Das vor. allem deswegen, weil sie nunmehr die Möglichkeit hat, sich an zwei fremden geschichtlichen Objekten zu orientieren, mit denen sie noch nie in eine so enge Berührung wie jetzt gekommen ist, und so am anderen ihr eigenes Selbst zu erkennen. Diese beiden Objekte, sind die amerikanischen Gewerkschaften und der total i- tärebolsc he wistischeStaat, denen gegenüber die europäische Arbeiterbewegung eine unverkennbare historische Eigenständigkeit aufweist, deren Wurzeln sie heute nachgehen muß. Ein solcher Versuch, das Wesen der Arbeiterbewegung Europas an Hand der Begegnung mit dem „Amerikanismus“ und dem Bolschewismus zu demonstrieren, liegt auch mit meinem vor kurzem erschienenen Buch „Europäische Arbeiterbewegung“ vor, das von der Grundthese ausgeht, daß die Arbeiterschaft als eine Spätform der gesellschaftlichen Entwicklung das Gesetz jener Gesellschaften und Kulturen weitergetragen hat, in die sie jeweils hineingeboren wurde.

So gesehen, ist das Fehlen eines Klassenbewußtseins in den . Vereinigten Staaten, dis dem europäischen Sozialisten so unbegreiflich erscheint, auf die Begegnung des amerikanischen Arbeiters mit einer noch nach allen Seiten offenen Gesellschaft zurückzuführen, gegen die er sich nicht erst durchsetzen mußte, sondern die ihn a priori als gleichberechtigten Partner aufnahm, nämlich als Partner eines Erfolgstrebens, das auf den einzelnen und nicht auf Klassen abgestellt war. Der russische Arbeiter fand hingegen eine Bauerngesellschaft vor, die aus sich heraus niemals die Antriebe zur Bildung höherer gesellschaftlicher Formen entwickelt hatte, denn auch das Proletariat war — ein entscheidender Umstand! — zur Zeit der Machtergreifung des Bolschewismus erst in Ansätzen vorhanden. Der Bolschewismus mußte das Proletariat, in dessen Namen er die Staatsgewalt an sich gerissen hatte, selbst erst aus dem Boden dieser Bauerngesellschaft hervorstampfen. Deswegen hat sich das Grundverhältnis zwischen Staat und Gesellschaft, das in Rußland seit Jahrhunderten ein Herrschaftsverhältnis war, durch den Bolschewismus in keiner Weise verändert. Es hat nur einen anderen Namen, nämlich den Namen „Planwirtschaft“ angenommen, in deren Rahmen die Arbeiterschaft ebenso eine ihr vom Staat gesetzte Funktion erfüllt, wie die russische Gesellschaft auch in früheren Jahrhunderten immer nur ihr vom Staat auferlegten Funktionen erfüllt hatte.

Das historische Grundelement, mit dem sich die europäische Arbeiterschaft auseinandersetzen mußte, war die Klasse. Die unverwechselbare Eigenart der europäischen gegenüber der amerikanischen und russischen Gesellschaft besteht darin, daß ihre einzelnen Schichten in einem bestimmten historischen Abstand aufeinanderfolgen. Jede neue heraufkommende soziale Schichte trifft daher in’ ihr auf spezifische Rechts-, Staats- und Wirtschaftsformen, die sich einst unter anderen gesellschaftlichen Voraussetzungen gebildet hatten und die eine neue Schichte nicht einfach übernehmen kann, weil der personale Anspruch der ihr Angehörigen gleichfalls nur auf der Grundlage der spezifischen soziologischen Voraussetzungen realisiert werden kann, die das Wesen der neuen Schichte ausmachen. Die politische Aufgabe einer heraufkommenden sozialen Schichte besteht also im Aufbau einer neuen Rechtsordnung, die an die Seite der überkommenen Rechtsordnungen tritt. Daß sich die Arbeiterschaft unter den historischen Bedingungen der europäischen Gesellschaft entfalten mußte, bedeutete daher, daß sie sich in einer „klassenmäßig“ gegliederten Gesellschaft einrichten mußte, sofern man unter Klasse nicht einen Rang — sondern einen Artbegriff versteht. Es ist hier demnach zunächst nicht von der konkreten kapitalistischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts die Rede, sondern von einer historischen Grundstruktur der europäischen Gesellschaft, welche in ein viel älteres Erdreich hinabreicht. Die europäische Arbeiterschaft hat sich diesen Bedingungen dadurch angeglichen, daß sie sich in Form der Arbeiterbewegung auch ihrerseits als „Klasse“ organisiert hat. Auch in diesem Fall verstehen wir unter „Klasse“ lediglich die Eigenständigkeit einer sozialen Schichte, die sich als gesellschaftliche Sondereinheit organisiert hat. Die europäische Arbeiterbewegung vereinigt solcherart zwei Funktionen in sich: eine empirische als Träger der Selbstverwirklichung der Arbeiterschaft und eine politische als Träger der Selbstdarstellung der Arbeiterschaft. Eben diese beiden Funktionen, die weder im russischen noch im amerikanischen Kulturkreis wiederkehren, machen das spezifische Wesen der europäischen Arbeiterbewegung aus. Die Arbeiterbewegung ist in diesem Sinn Mitträger der Idee der europäischen Gesellschaft, d. h. einer Gesellschaft, in welcher der Mensch seine Existenzmittel einerseits nicht vom Staate zugeteilt erhält wie im russischen Fall und in welcher er sich anderseits auch nicht als isolierter einzelner wie im amerikanischen Fall dureh- zusetzen vermag, in der vielmehr zwischen dem einzelnen und dem Staat die sozialen Gruppen sich einschieben, die sich als solche auch in der politischen Sphäre konstituieren. Ueberspitzt ausgedrückt könnte man daher sagen, daß esnurin EuropaArbeiter- b e w e g u n g im eigentlichen Sinne gibt.

Die konkrete historische Situation, die die europäische Arbeiterschaft bei ihrem Auftreten vorfand, hat ihr den Zugang zu dieser Sinndeutung der europäischen Arbeiterbewegung fürs erste freilich verbaut. Es war jene durch den Liberalismus geschaffene Situation, in der die Arbeitskraft nur die Funktion einer Ware hatte, die nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage erstanden wurde, wobei — und das machte die eigentliche soziale Situation der europäischen Arbeiterschaft aus — das Angebot die Nachfrage konstant überwog. Der dadurch auf die Arbeiterschaft ausgeübte Druck hat die europäische Gesellschaft zeitweise in eine Klasse der Produzenten und in eine Klasse der Konsumenten auseinanderfallen lassen. Von dieser Klassengesellschaft und also von der konkreten geschichtlichen Situation der Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert ist Marx ausgegangen, der die europäische Arbeiterbewegung in weiterer Folge in eine ihrem innersten Wesen entgegengesetzte geistige Richtung gedrängt hat, in eine kollektivistische Richtung, welche die Antithese zum Kapitalismus darstellte. Marx hat der historischen Gestalt der europäischen Gesellschaft jene materialistische Deutung gegeben, die mit der geschichtlichen Wirklichkeit, in der er sich geistig mit ihr auseinandersetzte, für einen Augenblick auch tatsächlich übereinstimmte. Im Marxismus reflektierte sich die klassenpolitische Situation der europäischen Gesellschaft des vorigen Jahrhunderts, und gerade diese Tatsache erklärt den historischen Erfolg, den die sozialistische Bewegung irrt 19. Jahrhundert erzielen konnte, in welchem der Marxismus zwar auch nicht das „natürliche politische Bewußtsein“ der Arbeiterschaft bildete, wohl aber eine Denkrichtung, die mit ihren Erfahrungen wenigstens zu diesem Zeitpunkt weitgehend übereinstimmte. So ging die europäische Arbeiterbewegung jenes Bündnis mit dem Marxismus ein, das bis in die zwanziger Jahre heraufreichte.

Tatsächlich kam der Marxismus in Europa jedoch nicht zum Zuge. Er hatte für die europäische Arbeiterschaft wohl die Bedeutung einer weltgeschichtlichen Orientierung, aber nicht einer Maxime des politischen Handelns. Der Kapitalismus erwies sich in Europa lediglich als ein historisches Durchgangsstadium der Gesellschaft, nicht als eine aus ureigensten Gesetzen zerfallende Ganzheit, die erst während ihres Zerfallprozesses die historische Funktion der Arbeiterbewegung freisetzt. In Wirklichkeit setzte sich die Arbeiterbewegung als ein Handelndes gegen den Kapitalismus durch, d. h. daß sie ihr sittliches Pathos, das die tatsächliche Maxime ihres politischen Handelns bildete, mehr und mehr zu realisieren vermochte. Und so, als Träger eines sittlichen Anspruchs, oder in unsere Sprache übersetzt, als Träger der personalen Würde des Arbeiters, haben sie auch die breiten Massen der Arbeiterschaft verstanden, die sich in ihrem Innersten niemals als Werkzeug irgendeiner weltgeschichtlichen Mission begriffen haben, sondern als Getretene und Enterbte, die mit der Gesellschaft einen Rechtsanspruch auszutragen hatten. In dem Maße, wie dieser Rechtsanspruch durchgesetzt werden konnte, wurde auch das Bündnis zwischen Marxismus und Arbeiterbewegung immer fraglicher. So lebten die Auseinandersetzungen mit dem Marxismus, die seit 1848 zu einer immer stärkeren Hinwendung der Arbeiterbewegung zu Marx führten, seit dem Ende des 19. Jahrhunderts mit der genau umgekehrten Tendenz wieder auf, mit der Tendenz zur Abkehr von Marx, dessen Konterfei der Klassengesellschaft von der geschichtlichen Wirklichkeit zusehends desavouiert wurde. Damit aber trat das eigentliche Wesen der europäischen Arbeiterbewegung, ihre wirkliche geschichtliche Funktion, immer klarer hervor, zugleich aber auch das europäische Gesetz, das der Arbeiterbewegung tatsächlich zugrunde liegt.

Dabei ist es kein Zufall, daß der antimarxistische Prozeß, den Westeuropa in den letzten Jahrzehnten durchgemadit hat, im Anschluß an das sozialistische Experiment in Sowjetrußland in Gang gekommen ist. In diesen Jahrzehnten hat die europäisch Arbeiterschaft nämlich erfahren, daß zwischen ihrer Geschichte und jener des russischen Proletariats seit den zwanziger Jahren ein Abgrund gähnt, der durch keine noch so gewagte Interpretation des Marxismus überbrückt werden kann. Hier handelt es sich um Gegensätze historischer Situationen, die unvergleichbare Größen darstellen. Es handelt sich — um das auch konkret auszudrücken — um den Gegensatz zwischen einer vom Staat organisierten, inspirierten und geleiteten Gesellschaft und einer Gesellschaft, die ihrerseits den Staat organisiert, inspiriert -und leitet. Indem sich der Kreml heute über den Willen der breiten Massen der europäischen Arbeiterschaft hinwegsetzt, macht er selbst den Gegensatz deutlich, in dem seine Bemühungen zur politischen Ueberzeugung der politischen . Arbeiterschaft stehen. Diese Ueberzeugung weist gegenüber der in Rußland herrschenden Ideologie nicht nur gra- duelle Unterschiede auf, sie widerspricht dieser Ideologie vielmehr in dem fundamentalen Punkt, daß sie die Gesellschaft über den Staat und nicht den Staat über die Gesellschaft setzt.

Dieser Gegensatz muß von der europäischen Arbeiterschaft heute zu Ende gedacht werden. Ihn zu Ende denken aber heißt, das Tischtuch zwischen der Arbeiterbewegung Europas und dem Marxismus endgültig zerschneiden und sich auf die Suche nach den europäischen Voraussetzungen der Arbeiterbewegung machen, also nach ihren wirklichen geschichtlichen Voraussetzungen, die ihren Weg aus dem 19. in das 20. Jahrhundert bestimmt haben. Sie gilt es heute in einem Bekenntnis zu Europa niederzulegen, mit dem auch die Arbeiterschaft den Zugang zu jener politischen Aufgabe — der Einigung des europäischen Kontinents — gefunden haben wird, von deren Lösung in einem hohen Maße auch die Freiheit und Zukunft der Welt abhängen.

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