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Der 1. Mai

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Zum erstenmal in der Geschichte der Arbeiterbewegung wird nun innerhalb der Arbeiterschaft selbst der erste Mai in der Art, wie er bisher gefeiert wurde, in Frage gestellt. Das geschieht siebzig Jahre, nachdem die Arbeiterschaft begonnen hatte, am ersten Tag des Mai gegen den Vorenthalt elementarer Rechte auf die Straßen zu ziehen. Später — nach dem Ende der Monarchie — war der Maiaufmarsch vor allem eine Demonstration von Macht, von bedrohlicher Macht, geworden, und schließlich war er bestimmt, den Triumph einer nun sieggewohnten Bewegung, nicht allein der Arbeiterschaft, sondern des Sozialismus, zu dokumentieren.

Der Klassengegner von einst, gegrn den die Arbeiterschaft demonstrierte, ist in deT Zwischenzeit ein anderer geworden, wenn nicht sogar über den „Genossen Direktor“ die „Bour-geosie“ eine fünfte Kolonne innerhalb der Arbeiterschaft unterzubringen vermochte. Sogar das Staatsoberhaupt, die Personifikation einer ehedem feindlich gesinnten Obrigkeit, entstammt dem Lager der Arbeiterschaft. Wo In Österreich Autorität und politische Macht gesammelt sind, ist die Arbeiterschaft mit dabei.

In diesem Jahr nun gilt der Umzug in Wien folgerichtig dem fünften Jahrestag der wiedererlangten Freiheit des Vaterlandes, dem fünfzehnten Jahrestag der Wiedererrichtung jenes Österreichs, zu dem die Arbeiterschaft in den Anfängen ihrer Organisation keine geordnete Beziehung finden konnte. Mehr noch: Vom nächsten Jahr an soll der 1. Mai „Nationalfeiertag“ und damit politisch und sozial völlig neutralisiert werden.

In diesem Jahr hat man übrigens an manchen Orten weithin die Freude verloren, gerade an einem Sonntag gegen eine Bourgeoisie zu demonstrieren, deren Konsumverhalten und Prestigewünsche man sich, und besonders am Sonntag, weithin zu eigen gemacht hat. Dazu kommt, daß viele unter der Arbeiterschaft das ungute Gefühl haben, daß ihre Forderungen nun doch schon Forderungen der Massen gegen die Massen geworden sind. Nicht mehr der „feiste“ Bürger kann das erfüllen, was an Mehr gefordert wird, sondern schließlich wieder nur die Arbeiterschaft.

Man meint daher da und dort, es genüge, wenn der „Klassenkampf“ im Saale stattfinde oder als ein Fest im Grünen neuen Ausdruck finde. Nicht als ein Fest der Satten, wohl aber der Gesättigten. Darob nun Glossen in der bürgerlichen Presse, statt Dankbarkeit dafür zu äußern, daß zumindest in einem Land die Spannung zwischen „Kapital“ und „Arbeit“ auf ein vertretbares Minimum abgesunken ist, vor allem deshalb, weil der Arbeiter ein unverkennbarer Teil der sichtbaren Gesellschaft und in aller Form ein Bürger des gemeinsamen Vaterlandes geworden ist. Wir sind jedenfalls — Gott sei Dank — so weit, daß die Arbeiterschaft auch unseres Landes mehr zu verlieren hat als ihre Ketten.

Die hämischen Glossen über die gewandelte Atmosphäre am ersten Mai kommen aber beileibe nicht allein aus dem Lager der Bürger. Ebenso sind es die Söhne der Veteranen des Klassen* kampfes, die ihre Väter nicht mehr verstehen können; ihre Väter, die wiederum nicht begreifen, daß sie, die Erinnerungen der Materialschlachten des Klassenkampfes vor Augen, nicht mehr in gleicher Weise und mit gleichen Sprüchen hinter den roten Fahnen in der Bittprozession der marxistischen Gegenkirche marschieren dürfen.

Die Arroganz der Söhne läßt sie übersehen, daß Sicherheit und Komfort, heute ebenso

Chance der Arbeiterschaft wie einst des Bürgertums allein, dem Arbeiter nicht verfügbar wären, hätten nicht auf allen Seiten der Klassengesellschaft Männer gestanden, die gewillt waren, Hunger und Ausbeutung in unserem Land zur ausnahmsweisen Erscheinung zu machen: Gewerkschafter, die nun, vielfach unbedankt, die Last tragen müssen, das Erhaltene zu erhalten, christliche Sozialreformer, die da meinten, daß die Bergpredigt und die großen Forderungen von der Brüderlichkeit und der Freiheit mehr seien als Worte — sie alle haben es erst möglich gemacht, daß der erste Mai einen völlig gewandelten Charakter hat und, zum Rang eines Nationalfeiertages erhoben, den Bestand einer neuen Ordnung andeutet.

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