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Von den Nazis gedemütigt und vertrieben, der Sozialdemokratie verbunden: Gerade deshalb bemüht sich der Autor um die Korrektur österreichischer Geschichtsbilder.

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Von den Nazis gedemütigt und vertrieben, der Sozialdemokratie verbunden: Gerade deshalb bemüht sich der Autor um die Korrektur österreichischer Geschichtsbilder.

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Die Bedingungen des Abkommens von Berchtesgaden mit der Aufnahme von zwei „Nationalen“ in die Regierung zielten offenbar auf eine schrittweise Machtübernahme der Nationalsozialisten gemäß der „Salamitaktik“. Bundeskanzler Kurt Schuschnigg gab aber nicht auf. Er versuchte mit analogen Konzessionen gegenüber der „roten“ Opposition ein neues politisches Gleichgewicht herzustellen. Wie auch nach dem Abkommen vom 11. Juli 1936 wurde die Amnestie, welche den Nationalsozialisten zugute kommen sollte, auch auf inhaftierte Kommunisten und Sozialisten ausgedehnt.

Der sozialdemokratische Metallarbeiter Adolf Watzek wurde als Staatssekretär für Arbeiterschutz in die Regierung aufgenommen, um die Arbeiterschaft für die Bewahrung von Österreichs Unabhängigkeit zu aktivieren. Bald darauf erschienen in den Industrieorten und in den Wiener Arbeiterbezirken wieder die Abzeichen der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. In sozialistischen Versammlungen wurde offen über die Bedingungen für eine mögliche Mitarbeit zur Wahrung der bedrohten Unabhängigkeit des Staats diskutiert.

In der letzten Regierung des autoritären Regimes waren also beide großen illegalen Parteien vertreten. Aber das Gewicht ihrer Vertretung reflektierte nicht das Kräfteverhältnis im Land Österreich, sondern das in der Weltpolitik. Und in dieser war Österreich hoffnungslos isoliert.

Dennoch zeigte sich sowohl im schwarzen wie im roten Lager in dieser Zeit ein beträchtlicher Wille zum Widerstand, obwohl das braune Lager auch im Inland über einen großen Anhang verfügte. Manche Optimisten hofften sogar auf eine Wiederbelebung der Demokratie. Junge Wiener Sozialisten und Kommunisten waren etwas realistischer und romantischer zugleich, indem sie meinten,

Wien könnte ein „zweites Madrid“ werden. In der Steiermark kam es zu Konfrontationen zwischen Roten und Schwarzen auf der. einen und den Braunen auf der anderen Seite. Sie zeigten, daß die Arbeiterschaft weiterhin überwiegend rot und die Bauernschaft überwiegend schwarz war. In den traditionellen Hochburgen des nationalen städtischen Bürgertums beherrschten die Nationalsozialisten bereits vor ihrer Machtübernahme das Straßenbild.

Die Kommunisten waren in dieser Zeit zu einer bedingungslosen Unterstützung des Kampfes gegen den „Nazifaschismus“ bereit. Sie hatten jedoch viel von dem nach dem Februar 1934 gewonnenen Einfluß verloren, denn die zu ihnen übergegangenen Sozialdemokraten wollten ihr selbständiges und kritisches Denken gegenüber der vom Kreml angeordneten Linie nicht aufgeben. Die Nachrichten über die von Stalin angeordneten Säuberungen, denen alle überlebenden Mitarbeiter Lenins zum Opfer gefallen waren, widerten die Sozialdemokraten an und erzeugten Mißtrauen. Aber die „Revolutionären Sozialisten“, seit dem 12. Februar 1934 die illegale Nachfolgepartei der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, machten der Regierung durch den am 16. Februar 1938 ernannten Staatssekretär für Arbeiterschutz, Adolf Watzek, klar, daß die Arbeiterschaft nicht ohne Bedingungen mobilisiert werden könne: Die Wiederherstellung demokratischer Freiheitsrechte und damit eine wirksame Vertretung der Interessen der Arbeiterschaft seien unabdingbar.

Am Abend des 9. März 1938 überraschte Bundeskanzler Schuschnigg die Öffentlichkeit mit der Ankündigung einer Volksabstimmung am kommenden Sonntag, dem 13. März.

Nach diesem Ansetzen der Volksabstimmung kam es in allen Teüen Österreichs zu Verbrüderungen zwischen Roten und Schwarzen. Hier sind die von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß im Februar 1934 ernannten kommissionarischen Bürgermeister zu erwähnen, die damals durch diese Ernennung das Vertrauen ihrer sozialdemokratischen Mitbürger verloren hatten. Nun gewannen manche von ihnen das Vertrauen mit zusätzlicher Zuneigung zurück, als sie — wie Richard Schmitz in Wien und Heinrich Raab in St. Pölten - die Arbeiter zum Freiheitskampf aufriefen.

Die außenpolitische Lage war jedoch hoffnungslos. Italien hatte seine Rolle als Schutzmacht aufgegeben und überließ jetzt Österreich bereitwillig seinem Bundesgenossen. Die Weltmächte waren nicht kampfbereit und, wie der bald darauf ausbrechende Weltkrieg zeigen sollte, unzureichend gerüstet. Eine verfassungsmäßig legitimierte Regierung hätte in dieser Krise mit der Unterstützung von demokratisch gesinnten Bürgern aus allen drei Lagern möglicherweise dem Druck standhalten können.

Aber die Regierung hatte keine verfassungsmäßig legitimierte Grundlage. Und die rechtliche Grundlage der so überaus kurzfristig angesetzten Volksabstimmung war gleichfalls zweifelhaft. Bei einer freien Abstimmung hätte die Mehrheit der Österreicher zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich gegen den Anschluß an das nationalsozialistische Deutsche Reich und für eine Bewahrung von Österreichs Unabhängigkeit gestimmt Es ist jedoch gleichfalls wahrscheinlich, daß nur eine Minderheit bereit war, Krieg und Bürgerkrieg zu riskieren.

Der Autor ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Wien. Der Beitrag zitiert auszugsweise aus seinem neuen Buch: DIE VERIRRTE ERSTE REPUBLIK. Multiplex Media Verlag, Wien 1988. 132 Seiten, kart., äS 182,-.

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