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Das Zünglein an der Waage

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Das sogenannte „Dritte Lager” Österreichs umfaßt ein breites politisches Spektrum und ist besonders unstet. Seit über einem Jahrhundert strecken sich die Ideologien dieses Lagers von einem weltoffenen, kosmopolitischen Liberalismus, dem nichts Menschliches fremd ist, zu einem engstirnigen, barbarischen nationalen Chauvinismus, dem nichts Fremdes menschlich ist.

Dementsprechend erscheinen die Parteien dieses Lagers unter häufig wechselnden Bezeichnungen. Dementsprechend schwankt die Zahl der Wähler dieser Parteien, die jedoch oft das Zünglein an der Waage zwischen den beiden großen traditionellen Parteien darstellen.

In der Ersten Republik haben führende Politiker dieses Lagers wertvolle Beiträge zur konstruktiven demokratischen Politik geleistet, sonst hätte die Demokratie nicht fünfzehn Jahre funktioniert.

Dann scheiterte die Demokratie nicht so sehr an der wirtschaftlichen Not als solcher, sondern an einer ideologisch motivierten Tri-polarisierung, welche das Parlament und viele andere gewählte Körperschaften arbeitsunfähig machte.

Dabei fand auch im Dritten Lager eine Dreiteilung statt, die, weil vielschichtig und kompliziert, vielfach übersehen wird.

Vom Mai 1932 bis zum September 1933 blieb der Landbund in Koalition mit der Christlichsozialen Partei und den sechs Nationalräten der Heimwehren, die nicht zu den Nationalsozialisten übergegangen waren. (Die meisten Wähler des „Heimatblocks”, der Partei der deklariert faschistischen Heimwehren, waren zu den Nationalsozialisten übergegangen, sowie drei der acht Heim-wehrler im Parlament. Von denen kehrte einer zur Heimwehr zurück, als diese in der Regierung Dollfuß zwei Ministerposten erhielt)

Der Landbund akzeptierte ein auf Krisenbewältigung ausgerichtetes autoritäres Regime sowie einen Aufschub des Anschlusses an das Deutsche Reich bis „nach dem Fall der Diktatur”. Der Landbund schied jedoch aus der Regierung aus, als in dieser die faschistischen Heimwehren tonangebend wurden.

Die Großdeutsche Volkspartei, die im November 1930 mit dem Landbund unter der Führung Schobers gemeinsam kandidiert hatte, ging im Frühjahr 1932 in die Opposition und drängte im Parlament auf Neuwahlen. Ebenso auf Neuwahlen drängten im Parlament die Sozialdemokraten und die beiden Heimwehrler, die zu den Nationalsozialisten übergegangen waren.

Die Großdeutschen protestierten gemeinsam mit den Sozialdemokraten im März 1933 gegen die Ausschaltung des Parlaments. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit die Großdeutsche Volkspartei von demokratischer Gesinnung motiviert war, beziehungsweise welche Rolle dabei Sympathie für die Nationalsozialisten spielte, zu denen fast alle Wähler der Großdeutschen Volkspartei übergegangen waren.

„Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei” hatte bei den Wahlen am 24. Aprü 1932 fast alle früheren Wähler der faschistischen Heimwehren (die im November 1930 als „Heimatblock” kandidiert hatten) sowie die der Großdeutschen Volkspartei (im November 1930 ein Teil des national-liberalen Schoberblocks) erhalten und beträchtliche Gewinne auf Kosten des Landbundes, der Christlichsozialen und der Sozialdemokraten erzielt. Mit ungefähr einem Fünftel der abgegebenen Stimmen war die NSDAP hiemit stärker als je zuvor eine andere Partei des Dritten Lagers und daher nicht mehr ein bloßes Zünglein an der Waage, sondern eine eigenständige Massenpartei.

Im Frühjahr 1933 scheiterten die Verhandlungen zwischen der Regierung Dollfuß und den vom Deutschen Reich unterstützten und ermutigten österreichischen Nationalsozialisten. Diese setzten darauf auf Destabilisierungster-ror in der Form von Bombenanschlägen und Attentaten.

Der Bürgerkrieg im Februar 1934 zwischen der Regierung und der Sozialdemokratie kam auch für die Nationalsozialisten völlig überraschend. Erst am 19. Februar 1934, als die Regierung die Lage völlig unter Kontrolle hatte, bot Hitlers Beauftragter für Österreich, Theodor Habicht, am Münchener Radio der österreichischen Regierung einen Waffenstillstand an. Die Regierung war zu dieser Zeit eindeutig Herrin der Lage und ignorierte das mit zehn Tagen befristete ultimative Waffenstillstandsangebot aus München.

Illegal und subversiv

Zu dieser Zeit haben sich außerdem zahlreiche karriereorientierte Österreicher von den Nationalsozialisten abgewendet. Diese Einbußen wurden jedoch von neuen Anhängern ausgeglichen, die aus Abneigung gegen die Regierung zu einem subversiven Einsatz im Untergrund bereit waren.

Unter den neuen Anhängern der im Untergrund wirkenden Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei in Österreich befanden sich ehemalige Sozialdemokraten, die in den Nationalsozialisten die aussichtsreichsten Feinde des verhaßten Regimes sahen, sowie Mitglieder der staatlichen Exekutive, die ihren Einsatz im Bürgerkrieg verabscheuten.

Bald kam es neuerlich zu Sprengstoff anschlagen, die große Schäden verursachten. Die meisten wurden von München aus angestiftet, doch verübten auch einzelne verbitterte Sozialisten Sprengstoffanschläge auf eigene Initiative.

Die Regierung hatte sich zwar durchgesetzt, aber ihre Legitimität war in den Augen vieler Österreicher begreiflicherweise überaus fragwürdig. Mangels einer legalen Opposition sympathisierten zahlreiche Österreicher mit den im Untergrund organisierten illegalen Parteien, den Sozialisten, Kommunisten und den vom Deutschen Reich massiv unterstützten Nationalsozialisten.

Viele Maßnahmen der Regierung waren überaus kontroversi-ell. Außerdem legitimierte die fragwürdige Legitimität der Regierung jegliche Art von Opposition, die natürlich in allen Fällen illegal und daher subversiv war.

Der Autor ist em. Universitätsprofetsor für Soziologie an der Universität Wien.

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