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Heraus aus den Sackgassen!

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Der 12. Februar 1934 ist Österreichs unbewältigte Vergangenheit. Wag sollen wir tun?

Im Sinne Freuds sind Traumata Ins Unterbewußtsein verdrängte Unlustgefühle, aus dem sie so lange immer wieder emporsteigen, bis sie durch das Aussprechen der Unlust gebannt werden. Die katholische Kirche kennt die Beichte, das Aussprechen von Sünde und Schuld, als ein Mittel seelischer Selbstreinigung.

So wird man wohl auch verfahren müssen, wenn Österreich das durch den 12. Februar 1934 verursachte Trauma loswerden will...

Natürlich muß dabei eine der beiden Seiten, die sich hier in Schuld und Sünde verstrickt haben, den Anfang machen. Wir glauben, daß dies die bürgerliche Seite sein muß, weil sie jene Diktatur aufgerichtet hat, die am 13. März 1938 einer noch drastischeren Diktatur weichen mußte. Und bekanntlich wiegen die Tatsünden schwerer als die Gedankensünden, will man einmal davon sprechen, daß ein Sieg des Republikanischen Schutzbundes Österreich vielleicht die „Diktatur des Proletariates“ gebracht hätte.

An der Spitze einer solchen Revision muß zunächst das Bekenntnis stehen, daß die Christlichsoziale Partei nicht bereit war, das System der von Parteien getragenen Demokratie mit der nötigen Entschlossenheit zu verteidigen, da sie sonst 1934 nicht sang- und klanglos von der Bildfläche hätte verschwinden können. Sie hatte sich gegenüber der Vaterländischen Front von vornherein auf die schiefe Bahn begeben, wenn sie sich seit Mitte 1933 als Wegbereiter des autoritären Staates feiern ließ.

Auf dem Boden solcher Erkenntnisse war nicht nur nicht an eine Verteidigung der Demokratie durch die Christlichsoziale Partei zu denken, vielmehr fiel diese Partei der Demokratie sogar in den Rücken, indem sie sich der Vaterländischen Front willig als Kader zur Verfügung stellte. Sie hatte im November 1933 ohne Widerstreben der Beurlaubung ihres Obmannes, Vaugoin, zugestimmt und in die Bestellung eines geschäftsführenden Obmannes in der Person Professor Dr. Czer-maks eingewilligt, der dann zur höheren Ehre der Vaterländischen Front praktisch zum Liquidator der Partei geworden ist.

Die Partei, die in Österreich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts als erste Massenpartei, als Stimme des kleinen Mannes im Parlament des Vielvölkerstaates ins Leben getreten war, die von 1896 bis 1918 die Verwaltung der Haunt- und Residenzstadt Wien geführt hatte und von 1920 bis 1934 in ununterbrochener Folge als erste Regierungspartei der Ersten Republik fungierte, hat vor dem autoritären Staat kampflos das Feld geräumt. Warum hat sie das getan?

Diese Frage ist der Ansatzpunkt zu einem zweiten „Mea culpa“, da es nunmehr gilt, den sozialen oder besser antisozialen Hintergrund des demokratischen Versagens der Christlichsozialen Partei zu erhellen. Von der antikapitalistischen Massenpartei des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts war nämlich nach dem ersten Weltkrieg nicht mehr viel übriggeblieben, weil sich in der Christlichsozialen Partei schon nach ihrer Krise im Jahre 1910, nach Luegers Tod, die großbürgerlichen Schichten in den Vordergrund geschoben haben, die das politische Profil dieser Partei von nun an mehr und mehr bestimmen sollten. Hatte die Christlichsoziale Partei bei den Parlamentswahlen im Jahre 1897, bei denen zum erstenmal auch die Wähler der fünften Kurie zu den Urnen schritten, in Wien mit ihren 117.000 Stimmen die Sozialdemokraten, auf die nur 88.000 Stimmen entfielen, noch überrunden können und blieb sie auch im ersten nach dem allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrecht im Jahre 1907 beschickten Reichsrat noch die stärkste Partei, so wurde sie von da an mit der zunehmenden Monopolisierung der Arbeiterstimmen durch die Sozialdemokratie als bürgerliche Partei abgestempelt, bei der nun auch das früher von dieser Partei bekämpfte Großkapital Schutz vor der Gefahr der Sozialisierung suchte. Die Partei hatte in der christlichen

Arbeiterbewegung wohl einen Arbeitnehmerflügel, das Schwergewicht lag jedoch bei den bäuerlichen und bürgerlichen Stimmen, da die christliche Arbeiterbewegung in das sozialistische Lager nie einen entscheidenden Einbruch erzielt hatte. Auf der bürgerlichen Seite aber zählten nicht nur die Stimmen, sondern auch ihr kapitalmäßiger Untergrund.

Dieser Profilwandel der Christlichsozialen Partei bietet die eigentliche Erklärung dafür, daß die größte bürgerliche Partei der Ersten Republik so plötzlich ihre Liebe für den autoritären Staat mit seinem berufsständischen Programm entdeckt hatte: Er war der Hebel, mit dem sich sowohl die Sozialdemokratische Partei als auch ganz allgemein die Arbeiterbewegung über Nacht aus den Angeln heben ließen. Denn der tiefere Sinn des Kampfes um die Einheit des Gewerkschaftsbundes im „Christlichen Ständestaat“ bestand darin, ein entscheidendes Hindernis gegen die berufsständische Atomisierung der Arbeiterbewegung zu bilden. Das Konzept, in der letzten Phase des berufsständischen Aufbaues nur noch Arbeitnehmersektionen im Rahmen der einzelnen Berufsstände übrigzulassen, also die Einheitsgewerkschaft als Ganzes aufzulösen, war nicht nur das Konzept der faschistischen Heimwehr, hinter ihm standen vielmehr auch alle Arbeitgeberverbände, die nur an einer berufsständischen Ordnung interessiert waren, in der es keine geschlossene Gewerkschaftsbewegung mehr gab. Was sich hier abspielte, war praktisch die nachträgliche Zerstörung der Christlichsozialen Partei als Volkspartei. Jene Gruppen, die früher in dieser Partei vereinigt waren, bezogen jetzt in einer entscheidenden Frage des berufsständischen Aufbaues einander entgegengesetzte Positionen. Die bürgerlichen Gruppen hatten ihr eigenes Konzept für den berufsständischen Aufbau, und die christliche Arbeiterbewegung hatte ihr eigenes Konzept für den berufsständischen Aufbau. Das bedeutete, daß die bc-rufsständische Idee, zu der sich die Christlichsoziale Partei in den Tagen ihrer Gründung bekannt hatte, nicht mehr gemeinsamer geistiger Besitz der in ihrem Lager vereinigten gesellschaftlichen Gruppen war, sondern nunmehr ein Kampfobjekt bildete, an dem der Zerfall dieses einst antikapitalistischen Lagers demonstriert werden konnte.

Das ist der zweite Sündenfall des österreichischen Bürgertums, der als solcher gesehen werden muß.

Es hat mit dem Konzept des berufsständischen Aufbaues, das es in den Jahren zwischen 1934 und 1938 verfolgt hatte, die Solidarität mit der Arbeiterschaft aufgegeben, indem es diese in eine Isolierung hineintreiben wollte, in der sie neuerlich auf den guten Willen ihres „Sozialpartners“ angewiesen war, auf jenen guten Willen, der bereits einmal als sozialreformerische Kraft versagt hatte. Die berufsständische Ordnung sollte für das Bürgertum Mittel zu einem antisozialen Zweck sein. Genau so, nämlich als Kampfansage, hat die Arbeiterschaft, vor allem die sozialistische, den berufs-ständiscnen Aufbau in Österreich verstanden: als eine Kampfansage an die Arbeiterbewegung, welcher die Arbeiterschaft zwar nicht ausschließlich, aber doch wesentlich ihren sozialen Aufstieg verdankte.

Nach der Vollendung dieses berufsständischen Aufbaues sollte die Arbeiterschaft als gesellschaftliche Einheit zu bestehen aufhören, nicht, weil sie, wie Vogelsang es gewollt hatte, von der Besitzerklasse absorbiert worden, in dieser aufgegangen war; als gesellschaftliche Einheit zu bestehen aufhören, hieß hier vielmehr, daß einer noch nicht entproletari-sierten Schicht die Machtmittel aus der Hand geschlagen werden sollten, mit denen sie den Prozeß ihrer Entproletarisierung in Gang halten konnte. Das ist der Sinn des zweiten Sündenfalles, dessen sich die bürgerlichen Elemente im „Christlichen Ständestaat“ schuldig gemacht haben.

Ihr dritter Sündenfall richtete sich gegen Gesetz und Geist der Demokratie.

Die Tatsache, daß die Christlichsoziale Partei keine Anstalten machte, die demokratische Staatsform zu verteidigen, war nur das Vorspiel jener totalitären Verirrung, in die sich das bürgerliche Element mit dem autoritären Staat verstrickt hatte. Die „Reichspost“ hatte das Bekenntnis der Christlichsozialen Partei zur Vaterländischen Front und zur „autoritären Führung“ des Staates damit erklärt, daß der „Ständestaat, dem Österreich zusteuerte, die Verwirklichungeines christlichsozialen Urideals, Erfüllung christlichsozialer Forderungen“ sei. Apodiktisch stellte sie fest: „Der Ständestaat, das ist der christlichsoziale Staat.“

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