6707399-1964_06_03.jpg
Digital In Arbeit

Das Grundgesetz der Demokratie

Werbung
Werbung
Werbung

Damit konnten sich zur Not die christlichsozialen Parteigänger zufriedengeben. Aber was sagten die anderen, für die dieser „christlichsoziale Staat“ nicht das politische Ideal bedeutete? Gesetzt den Fall, den Bürgerkrieg von 1934 hätte der Republikanische Schutzbund gewonnen. Hätte man dann auch den Satz toleriert- „Die Diktatur des Proletariats ist die Verwirklichung eines marxistischen Urideals, Erfüllung sozialistischer Forderungen.“? Oder hätte man nicht gesagt, daß der Sozialismus dem österreichischen Volk durch eine Diktatur aufgezwungen worden sei? Dabei hatte die „Reichspost“ jenen Satz noch vor dem 12. Februar 1934, nämlich am 1. Oktober 1933, veröffentlicht, zu einem Zeitpunkt also, in dem die Verfassung von 1929 formell noch in Kraft stand und in dem sie sich daher nicht auf das ominöse „Recht des Siegers“ berufen konnte, das nach dem 12. Februar, so zweifelhaft seine Anwendung auf einen Bürgerkrieg auch ist, immerhin zur Entschuldigung hätte herangezogen werden können,. Nein;.Nach in der Ersten Republik, die eine demokratische Verfassung hatte, hat man sich zu dem Satz bekannt, daß eine bestimmte Gesinnung auch das Recht einschließt, die demokratische Verfassung aus dem Weg zu räumen.

Denn das war die Quintessenz der Bereitschaft der Christlichsozialen Partei, sich dem autoritären Staat zur Verfügung zu stellen. Hier aber fängt der totalitäre Staat und hier fängt das Bekenntnis zum totalitären Staat an, dessen Wesen ja darin besteht, daß er eine Ideologie zur Staatsideologie erhebt und allen anderen Ideologien und Gesinnungen das Daseinsrecht abspricht. Der demokratische Staat verhält sich im Gegensatz zum totalitären Staat allen Ideologien gegenüber neutral, weil er sich nicht zum Schiedsrichter über „gute“ oder „schlechte“, „richtige“ oder „falsche“ Ideologien macht. Diese Neutralität ist die eigentliche Wurzel der in ihm herrschenden Freiheit. Man begibt sich daher nicht nur mit einem Fuß, sondern mit beiden Füßen in den totalitären Staat, wenn man die Neutralität des Staates gegenüber allen Ideologien nicht mehr anerkennt, sondern dem Staat eine einzige Ideologie oktroyiert oder richtiger — überhaupt eine Ideologie oktroyiert. Das Bekenntnis zum .^autoritären Staat“, das maßgebende Kreise der Christlichsozialen Partei noch im demokratischen Österreich abgelegt haben, war daher ein Bekenntnis zum Verfassungsbruch im elementarsten Sinn des Wortes, weil damit nichts anderes als die Absicht ausgesprochen wurde, das Grundgesetz der Demokratie, das Gesetz der Neutralität des Staates gegenüber den Ideologien, aufzuheben.

Dieses Gesetz aufgehoben zu haben, war der dritte Sündenfall des Bürgertums, und er war um so größer, als das Bürgertum damit die eigene Vergangenheit verleugnet hatte, in der es zum Mitbegründer des demokratischen Staates geworden war. Solange man sich daher nicht zu der Einsicht durchringt, daß der „autoritäre“ Staat ein diktatorischer Staat in des Wortes wahrer Bedeutung gewesen ist, solange man vielmehr versucht, seine diktatorische Natur zu beschönigen oder gar zu bestreiten, so lange verleugnet man die letzten Konsequenzen, die aus dem Experiment des „Christlichen Ständestaates“ heute gezogen werden müssen. Alle Theorien über den „autoritären Staat“, die zwischen 1934 und 1938 feilgeboten worden sind, ja, auch alle Unterscheidungen, die man gegenüber der Diktatur getroffen hat, können nicht die Tatsache aus der Welt schaffen, daß der Bürger durch diesen Staat einen Gesinnungsbefehl erhalten hat, der ihm, dem Staat, nicht zusteht.

Erst wenn daher offen zugegeben wird, daß auch der „autoritäre Staat“ ein diktatorischer Staat war, daß dieser Staat seiner Konzeption, wenn auch nicht seiner Wirklichkeit nach, eingereiht werden muß in die Reihe der Diktaturen, die damals bestanden haben, kann die letzte Unklarheit über das demokratische Bekenntnis des Bürgertums beseitigt werden.

In diesen drei Tatsachen:

• in der- kampflosen Preisgabe der demokratischen Verfassung durch die nichtsozialistischen Kräfte, ihrer Kapitulation vor dem offenen und versteckten Faschismus, die sie vor dem 12. Februar 1934 dadurch vollzogen, daß sie bei der verfassungsmäßigen Entwirrung der durch die Selbstausschaltung des Parlaments entstandenen Situation versagten;

• in dem Versuch, die Idee der berufsständischen Ordnung der sozialen Reaktion dienstbar zu machen, indem man in ihr ein Mittel zur Zerschlagung der Arbeiterbewegung erblickte, im Gegensatz zur sozialen Konzeption der berufsständischen Ordnung, die im Sinne von „Quadra-gesimo anno“ die gesellschaftliche Gleichberechtigung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zum Ausdruck bringen sollte;

• im Bekenntnis zum totalitären Staat, das mit dem Gesinnungsbefehl des „Christlichen Ständestaates“ gegeben war, der die Aufhebung der politischen Freiheit des demokratischen Staates in sich schloß, indem er dem Staatsbürger eine bestimmte Staats- und Gesellschaftsordnung zur Vorschrift machte, der gegenüber alle anderen Vorstellungen von Staat und Gesellschaft in die Illegalität verbannt wurden —

in diesen drei Tatsachen präsentiert sich der politische Sündenfall der bürgerlichen Kräfte, der als solcher erkannt und zugegeben werden muß. Das bedeutet, daß die Periode von 1934 bis 1938 nicht mehr mit jenen Pseudomotiven entschuldigt werden darf, die wohl am Rande eine Rolle gespielt haben mögen, die aber nicht den Kern der Situation verdecken dürfen, mit der man es damals zu tun hatte — mit jener totalitären Situation unter einem christlichen Vorzeichen, deren Quintessenz in der Unterdrückung des politischen Gegners bestand.

Erst das offene Einbekenntnis dieser Situation kann zur politischen Selbstreinigung der einen Seite führen, die am 12. Februar 1934 beteiligt war, und damit eine der Voraussetzungen für die Überwindung jenes politischen Traumas schaffen, dessen Schatten sich auch noch auf die Zweite Republik gelegt haben.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.