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Zahe Traditionen
Man soll die Zählebigkeiit und die Formkraft von Traditionen nicht unterschätzen. Schon vor Jahren, noch zur Zeit der Koalitionsregierung, wurden von der bürgerlichen Presse Überlegungen angestellt, daß die Sozialisten diesmal, und wenn nicht diesmal, so bestimmt im nächsten Jahr, ihren 1.-Mai-Umzug einstellen werden, da die Teilnehmer ohnedies immer mehr schwinden und die Jugend von heute den „Tag der Arbeit“ lieber durch eine spritzige Autotour als durch einen stundenlangen Fußmarsch feiern würde.
Es kann sein, daß ähnliche sorgenvolle Überlegungen auch vielleicht bei dem einen oder anderen sozialistischen Funktionär angestellt wurden. Die Tradition aber hat sich als stärker erwiesen. Heute redet niemand mehr davon. Die Wiener Sozialisten marschieren. Sie marschierten auch an diesem 1. Mai, obwohl gerade der Doppelfeiertag und das schöne Wetter zu einer ersten großen Frühlingsfahrt verlockten. Zähes Leben haben auch manche 1.-Mai-Parolen bewiesen. Gleich gewissen Kerbtieren, die eingekapselt, monatelang ein scheintotes Leben führen können, um dann, wenn belebendes Naß sie erreicht, plötzlich springlebendig zu werden, scheint es auch manchen Maiparolen zu gehen. Wer die Erste Republik wissend miterlebte, der kennt die sterotypen Parolen vor jeder Wahl und an jedem 1. Mal, „Hände weg vom Mieterschutz“, geschmückt mit phantasie-vollen Porträts habgieriger Zina-geiar mit Hausherrenkapperln, So auch heuer. Fast als ob nichts gewesen wäre inawischen.
Wer aber weder mitmarschierte noch im Wald spazieren ging, sondern auf seine vier Wände und seinen Flimmerkasten angewiesen war, der spürte fast überhaupt nichts vom „Tag der Arbeit“. Wir sahen nur die Wiederholung einer Sendung, die Wir schon im zweiten Programm sahen, „Verbrannte Barrikaden — Kampf und Begegnung zwischen Christentum und Arbeiterschaft“.
Es waren in diesem Streifen eine Menge sehr wohltönender und wahrscheinlich auch sehr wohlmeinender Sätze zu hören. Aber damit, daß man einleitend Arbeiter sagen läßt, daß ihrer Meinung nach ein Christ Sozialist beziehungsweise ein Sozialist Ohrist sein könnte und daß man die Ansätze katholischer Bemühungen organisatorischer Art um die Arbeiterschaft etwas pathetisch überbewertet, ist das Problem nicht gelöst und ist es auch nicht zu lösen. Am ehrlichsten schien uns dr j, was der Obmann der Katholischen Arbeiterbewegung, Josef Steurer, sagte, als er davor warnte, sich eine wirkliche Begegnung wischen Kirche und Arbeiterschaft so einfach vorzustellen. So einfach vielleicht auch, wie es dieser Film zeigen wollte. Aber auch er wandelt in Traditionen, die eine Zähigkeit beweisen, fern jeder Wirklichkeit.
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