6707602-1964_07_03.jpg
Digital In Arbeit

Otto Bauer und der Kommunismus

Werbung
Werbung
Werbung

Der erste Modellfall war der Bolschewismus in Rußland. Es war das Modell der „Diktatur des Proletariats“, einer Diktatur jedoch, die in keiner Weise mit jenen Voraussetzungen übereinstimmte, von denen Marx für diesen Fall ausgegangen war. Nach Marx sollte die „Diktatur des Proletariats“ einen Uber-gangszustand bilden, der die vollentfaltete kapitalistische Gesellschaft in die neue sozialistische Gesellschaft, das Privateigentum der wenigen in da.- Gemeineigentum aller überleitete. Da es in der Sowjetunion im gegebenen Zeitpunkt keine vollentfaltete kapitalistische Gesellschaft gab, da dieses Land sogar die am wenigsten entfaltete kapitalistische Gesellschaft aufwies, gewann die „Diktatur des Proletariats“ hier einen ganz anderen Sinn, nicht zuletzt den Sinn einer Diktatur über das Proletariat, die den gesellschaftlichen Prozeß, in dem sich Proletariat bilden konnte, erst in Gang setzen mußte. Die Formel Dr. Otto Bauers, „Hände weg von der Sowjetunion“ brachte zum Ausdruck, daß sich der österreichische Sozialismus zwar nicht mit dem Bolschewismus identifizierte, wohl aber ihn 'sich selbst überlassen wollte. Er lehnte die Anwendung desvbV>Iscn'e£“1 wistischen Modellfalles eines „sozialistischen Aufbaues“ auf Österreich ab, weil Österreich zum Unterschied von Rußland bereits ein durchindustrialisierter Staat war, der nach der Meinung Dr. Otto Bauers aus sich heraus die Bedingungen produzieren konnte, unter denen die Arbeiterklasse im ursprünglichen marxistischen Sinn eines Tages die Herrschaft antreten konnte und dann auf alle jene Mittel zu verzichten vermochte, die den Bolschewismus als ein diktatorisches Regime charakterisierten.

Der zweite Modellfall war jener eines friedlichen Hineinwachsens der Arbeiterklasse in den Staat — der Modellfall der „Verbürgerlichung“ der Arbeiterklasse. Für diesen Modellfall standen die Politik der Labour Party in den zwanziger Jahren, aber auch die Politik des nordischen Sozialismus, der sich schon damals von der marxistischen Interpretation einer sozialistischen Politik zu befreien begann, indem er dem kapitalistischen Wirtschaftssystem die Attribute des Wohlfahrtsstaates aufpfropfen wollte. Vorläufer einer solchen sozialistischen Theorie waren in Deutschland Eduard Bernstein und in Österreich Dr. Karl Renner, dieser mit dem wesentlichen Zusatz, daß es ihm vor allem um die Mobilisierung des Staates zugunsten der Arbeiterklasse ging.

Der Modellfall „Austromarxismus“ hatte weder etwas mit der blutrünstigen Geschichte des russischen Bolschewismus noch etwas mit dem idyllischen Wolkenkuckucksheim des Evolutionssozialismus zu tun. Der Austromarxismus grenzte sich gegen den Bolschewismus — der im Grunde ein historischer Sonderfall ist — dadurch ab, daß er an den klassischen marxistischen Voraussetzungen einer künftigen sozialistischen Gesellschaftsordnung festhielt, an dem Grundsatz, daß im Augenblick des Übergangs zu dieser Gesellschaftsordnung im „Interesse der ungeheuren Mehrzahl“ gehandelt werden müsse, das heißt, für ihn mußte die sozialistische Gesellschaftsordnung eine demokratische Basis haben. Gegen den Evolutionssozialismus aber grenzte sich der Austromarxismus dadurch ab, daß er auch an den klassischen marxistischen Zielen, nämlich an der „klassenlosen Gesellschaft“ als einem neuen, antikapitalistischen Gesellschaftsmodell festhielt, sich also gegen eine Verquickung von Kapitalismus und Sozialismus aussprach. Er war daher wohl demokratisch in seinen Mitteln, aber11 weiterhin revb1ifÜ3öär 1ff*MV nen Zielen.

Das also war der Fall „Austromarxismus“, der Fall der zweiten politischen Komponente in der Ersten Republik. Auch in ihm steckten eine Reihe totalitärer Elemente, sei es auch nur in dem Sinn, daß er mit dem Austrofaschismus wie mit jedem anderen Faschismus die Zukunft als eine Einbahnstraße, diesfalls in Richtung Sozialismus, wertete. Seine praktische Anwendung in der gegebenen politischen Situation, in der Situation der Ersten Republik, aber bestand darin, daß er die sozialistische Arbeiterschaft von der Teilnahme am Staate fernhielt, daß er ihr das Rezept der Opposition verschrieb, einer grundsätzlichen, ideologischen Opposition, die nicht zuletzt in der Weise funktionierte, daß er den bürgerlichen Parteien für die Teilnahme der Sozialdemokratischen Partei an der Regierung Bedingungen stellte, die diese nicht akzeptieren konnten, weil er dabei eben jene „klassenlose Gesellschaft“ anvisierte, in welcher der Untergang des Bürgertums beschlossen war. Die Tragik dieser politischen Position des Austromarxismus aber lag darin, daß sie weder mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit noch mit der politischen und wirtschaftlichen Situation Österreichs übereinstimmte, ein Umstand, der den Austromarxismus am Ende in

einem luftleeren Raum agieren ließ, mit dem er alle Beziehungen zum konkreten Staat und seinen lebendigen Bedürfnissen einbüßte.

Denn was war Österreichs eigentliches Problem nach 1918? Österreich hatte mit der Auflösung des alten Staatenverbandes ein Schicksal erlitten wie kein anderer europäischer Staat, auch Deutschland nicht, das zwar an seinen Grenzen verstümmelt worden, aber als Staat Intakt geblieben war. Österreich aber — in seiner überlieferten historischen Gestalt — ist zerstückelt worden. Es hat dadurch nicht weniger als sieben Achtel seiner früheren Absatzgebiete verloren und hörte als industrielles Herz des alten Reiches zu schlagen auf. Die beiden Reichsteile, Österreich und Ungarn, hatten noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine grundlegend voneinander verschiedene wirtschaftliche Struktur. Während in Österreich damals bereits 66,5, Prozent der Bevölkerung in weiterverarbeitenden Betrieben und im öffentlichen Dienst beschäftigt waren, lebten 95,4 Prozent der ungarischen Bevölkerung von der landwirtschaftlichen Urproduktion. Diese Arbeitsteilung zwischen dem industriellen Österreich und dem Agrarland Ungarn wurde 1918 einfach über den Haufen geworfen. Es war daher noch nicht viel getan, als man Österreich im Jahre 1920 eine republikanische Verfassung gab. Die eigentlichen Lebensprobleme der österreichischen Bevölkerung waren in Wirklichkeit noch zu lösen, und es waren in erster Linie Probleme wirtschaftlicher Natur, die hier gelöst werden mußten. Konnte sich daher eine Partei, die wie keine andere die produktiven Kräfte der österreichischen Gesellschaft repräsentierte, in diesem Augenblick von der Verantwortung für das weitere Geschick dieses Landes zurückziehen, etwa wie es der König von Sachsen mit den Worten getan hatte: „Macht euch euren Dreek alleene.“?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung