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Abbau der Selbsttäuschungen“

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FURCHE: Sehen Sie eine Verbindung zwischen dem Phäno-• men der Neuen Linken und der Konzeption Otto Bauers'

LESER: Von einer Kontinuität beziehungsweise von einem Wiederentdecken des Austromarxismus kann man insofern sprechen, als sich sowohl die Neue Linke als auch der Austromarxismus um Alternativen sowohl zum Reformismus als auch zum bürokratisch erstarrten Sozialismus, wie wir ihn im Kommunismus finden,bemühen. Ihr gemeinsames Anliegen ist das Bemühen, über beide Konzepte hinauszugelangen und nicht in einer dieser beiden Sackgassen verbleiben zu dürfen. Aber die Konsequenzen der Erkenntnis derselben Ausgangsposition sind ■verschiedene: Bauer, einer fatalistischen Konzeption verpflichtet, erwartete sich alles von den objektiven Bedingungen und engte damit seinen ohnehin geringen Handlungsspielraum selbst weiter ein. Hingegen will die Neue Linke dem subjektiven Faktor wieder zu seinem Recht, und sei es gegen die objektiven Bedingungen, verhelfen. Bauer hielt die kommende Revolution nicht durch eigenes Handeln erzwingbar. Einerseits liegt also durchaus ein Wiederentdecken des austromarxistischen Anliegens vor, anderseits werden völlig andere Schlüsse daraus gezogen, das heißt, es besteht sowohl Kontinuität im Grundwollen als auch Diskontinuität in den Konsequenzen. Man kann an den Austromarxismus auch gar nicht im meritorischen Sinn anknüpfen. Das, was man als sozialistische Theorie bezeichnet, ist heute tot. (Wenn man davon ausgeht, daß eine sozialistische Theorie auf der Grundannahme aufbaut, aus einer politischen Theorie seien Anweisungen für konkretes politisches Handeln ablesbar.) Somit ist das, was vielleicht als Rückschritt bezeichnet werden könnte, das Abstreifen der Theorie nämlich, eigentlich das Abstreifen einer Selbsttäuschung, da in Wirklichkeit das Wollen im politischen Raum entscheidend ist.

FURCHE: Worauf führen Sie die „Renaissance“ des Austromarxismus zurück?

LESER: Es beginnt sich jetzt eine Verarbeitung der historischen Erfahrungen abzuzeichnen. Das alte marxistische Revolutionskonzept, das Proletariat gegen die morsch gewordene kapitalistische Ordnung zu führen und im siegreichen Endkampf den totalen Umsturz zu erreichen, ist gescheitert. Anderseits führte die Integration in die bestehende Ordnung zu einer vorschnellen Bescheidung, vor allem hinsichtlich kulturell-geistiger Anliegen. Die Neue Linke ist hier eine doppelte Verneinung, einerseits des verfehlten, nicht mehr reproduzierbaren altmarxistischen strategischen Konzepts, anderseits der Erstarrungs- und Verkrustungs-erscheinungen im Zuge der Integration. Sie ist die Ablösung der skeptischen durch eine engagierte Generation, die in den jeweiligen Systemen die traditionellen Autoritäten beim Wort nimmt. Ich würde die Neue Linke nicht auf Gruppen einschränken, die sich selbst so nennen. Es ist ja kein Zufall, daß derartige Erscheinungen parallel in Kirche, Kommunismus und Parteien auftreten. Aber auch die Neue Linke, die die bestehenden Systeme und Lösungsmöglichkeiten relativiert, muß nun ihrerseits relativiert werden und sich Abstriche von ihrem Konzept gefallen lassen. Weder totale Ablehnung noch totale Identifikation mit ihr sind möglich. Das Selbstverständnis einer' Gruppe und ihre objektiv historische Funktion fallen immer auseinander.

FURCHE: Halten Sie unser Modeil der parlamentarischen Demokratie für endgültig oder sehen Sie Möglichkeiten einer Weiterentwicklung?

LESER: Richtig ist, daß die parlamentarische Demokratie, obwohl eine wertvolle Errungenschaft, nicht der Stein der Weisen oder der Weisheit letzter Schluß ist. Zwar ist sie noch durch kein allgemeineres Modell ersetzt worden, jedenfalls aber einer ständigen kritischen Infragestellung notwendigerweise unterworfen, somit verbesserungs- und ergänzungsbedürftig und hoffentlich auch — fähig. Meiner Meinung nach müßten Verbesserungsvorschläge in folgende Richtung gehen:

Der Wahlprozeß selbst ist zu verlebendigen und zu demokratisieren (durch Vorwahlen und stärkere Betonung der Persönlichkeitswahlen). Anderseits bedarf es darüber hinausgehend einer stärkeren Aktivierung der Menschen zur Gestaltung ihres Schicksals in überblickbaren Teilbereichen ihres Lebens. (Hochschulen, Schulen, Gemeinden, Kirchen). Eine derartige Teilmobilisierung wäre gerade in Österreich nötig, da noch ein enormer Nachholbedarf auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und in den politischen Parteien besteht und eine Demokratie ohne ein Minimum an Engagement leicht zu Apathie und innerer Erstarrung führen kann. Anderseits ist das Konzept der totalen Mobilisierung für politische Zwecke, das ich als „Politismus“ bezeichnen möchte, auch disfunktional für die Demokratie und letztlich totalitär. Somit scheint die Problematik für die Demokratie darin zu liegen, sich auf die richtige Mittellage zwischen den Extremen von totaler politischer Apathie und totaler Politisierung einzupendeln.

FURCHE: In Ihrem Buch haben Sie — bewußt oder unbewußt — keine Schlüsse aus der Geschichte des Austromarxismus für die heutige politische Situation der SPÖ gezogen. Könnten Sie Ihre politischen Vorstellungen präzisieren und angeben, in welche Richtung die Konsequenzen der heutigen Parteien aus dem Versagen der historischen Parteien gehen müßten?

LESER: Ich schlage den Abbau der traditionellen Selbsttäuschungen und ideologischen Konstruktionen vor, die daran hindern, voll funktionsfähig zu sein und sich dem politischen Realitätstest zu unterwerfen. Etwa die Vorstellungen des Austromarxismus, die sozialdemokratische Partei sei keine Partei wie jede andere, sondern eine Art Heilsgemeinschaft. Dieses Selbstverständnis der Parteien sollte durch ein anderes Verständnis ersetzt werden, das dem demokratischen Konkurrenzmechanismus besser angepaßt ist.

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